Herr Prof. Goldbrunner, aktuelle Fortschritte auf dem Gebiet der Genomik, Biotechnologien oder weiteren Omics-Ansätze eröffnen immer mehr Möglichkeiten, Präzisionsmedizin in die Praxis umzusetzen. Sie haben das zu einem wichtigen Schwerpunktthema beim diesjährigen Jahreskongress der DGNC gemacht. Wie kann man sich diesen Paradigmenwechsel in Bezug auf ihr Fachgebiet Neurochirurgie vorstellen?
Die größte Bedeutung haben die verschiedenen Omics-Ansätze in der
Onkologie, speziell der Neuroonkologie. Was wiederum unmittelbar unseren Patienten nützt. Denn chirurgische Ansätze und Strategien hängen sehr genau von der molekularen Diagnose ab. Erst durch diese Omics-Ansätze wissen wir, was die korrekte, präzise und individualisierte Therapie für den Patienten ist. Letztere ist nicht immer eine medikamentöse Therapie, sondern oftmals eine chirurgische Therapie. Das alles hängt ganz eng zusammen und hat unmittelbare gegenseitige Auswirkungen.
Der Begriff -omics dienst als Oberbegriff für molekularbiologische Methoden (genomics, transcriptomics, proteomics, metabolomics, secretomic, usw.). Mit den Daten aus den Omics-Analysen lassen sich individualisierte Rückschlüsse ziehen. Was konkret bedeuten die Omics-Ansätze für den Patienten?
Die Omics-Ansätze, also die genaue Diagnose von neuropathologischer und molekularpathologischer Seite, dienen dazu, die Diagnose des Patienten anhand der genetischen Zusammensetzung des Tumors sehr genau festzumachen und vor allem auch seine Prognose zu bestimmen. Davon wiederum hängt auch ab, was die bestmögliche Therapie sein wird. Insofern sind die Omics-Ansätze ein sehr großer Fortschritt für jeden einzelnen, individuellen Patienten.
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Für jeden Patienten die richtige Therapie. In den vergangenen Jahren ist dieser Traum durch die Präzisionsmedizin greifbarer geworden. Auf dem Gebiet der Onkologie konnten bereits Erfolge erzielt werden. Wie kam es dazu?
Die Präzisionsmedizin hat in der Onkologie wie in der Neurochirurgie für einen Qualitätsfortschritt gesorgt. Die systematische molekulare Analyse maligner Tumoren gehört mittlerweile zur Standarddiagnostik. Durch genomisches Profiling können Tumorzellen in verschiedenen Ebenen untersucht werden - vom Genom bis hin zur zellulären Ebene. Präzisionsmedizinische Methoden kommen bei der Aufarbeitung zahlreicher Tumorarten schon routinemäßig zum Einsatz. Mittlerweile gibt es auch Geräte im neurochirurgischen Operationssaal, die wir direkt vom OP-Tisch mit Gewebe füttern können und dann bereits eine Diagnose stellen können. Die Künstliche Intelligenz ist auf dem besten Wege, die Radiologen und Pathologen ganz massiv zu unterstützen.
Wovon sind die Behandlungsmöglichkeiten abhängig?
An erster Stelle stehen die exakte, klinische Untersuchung, die Anamnese und die Bildgebung, zumeist die MRT-Bildgebung oder metabolische Bildgebung, z.B. PET-Untersuchungen. Im nächsten Schritt folgt die stereotaktische Biopsie zur Gewinnung einer feinen Tumorprobe, an der die gesamte Molekulargenetik gemacht werden kann. Wenn alle molekular-basierten Untersuchungen erfolgt sind, können wir eine absolut präzise und individualisierte Therapie für den Patienten festlegen. In den meisten Fällen steht eine Operation am Anfang des Geschehens. Immer mit dem Ziel, eine praktisch vollständige OP ohne neurologischen Schaden für den Patienten durchzuführen.
Welche Rolle spielt die Interdisziplinarität bei Präventions- und Vorhersagemodellen?
Eine ungeheuer große. Die Interdisziplinarität ist vielleicht sogar das Wichtigste, was wir in den vergangenen Jahren gelernt haben. Nicht ein Einzelner, so gut er auch sein mag, kann die Therapie einer komplizierten Erkrankung festlegen und durchführen. Es braucht ein Team aus Spezialisten, die aus verschiedenen Blickwinkeln die Erkrankung des Patienten betrachten, diagnostizieren und im Konsens die optimale Therapie festlegen. Dies betrifft nicht nur die Neuroonkologie, sondern auch die neurovaskuläre Medizin, die funktionelle Neurochirurgie, ebenso die Wirbelsäulenchirurgie. Die Interdisziplinarität ist extrem stark im Aufwind. Das ist zwar aufwendig beim Faktor Zeit, aber der Gewinn ist riesig.
Und wie kann man sich das in der Neurochirurgie im klinischen Alltag vorstellen?
Wir sitzen mehrere Tage pro Woche in interdisziplinären Konferenzen, wo einzelne Patienten vorgestellt werden. Es gibt ein Tumorboard, die neurovaskuläre Konferenz, das Wirbelsäulenboard. Die Konferenzen sind nachmittags und abends, tagsüber können wir unseren Hauptjob machen.
Wie ist der Stand der Entwicklung, der auch auf dem Kongress abgebildet wird? Wo sehen Sie Chancen und Risiken für die Neurochirurgie?
Der Fokus all unserer Teilbereiche auf die Interdisziplinarität, auf die exakten Omics-basierten Diagnosen, die dann hochpräzise und individualisierte Therapien zulassen. Diese Entwicklungen sind übergeordnet - deshalb wollten wir den Fokus auf diese übergeordneten Entwicklungen legen. Ich bin überzeugt, das bringt mehr, als wenn man einzelne Bereiche betont und voneinander abgrenzt.
Moderne Medizin stößt in immer neue Dimensionen vor. Was ist möglich, machbar und sinnvoll? Wo sehen Sie die Grenzen?
Es gibt ethische Grenzen. Das heißt, ob der Patient das, was wir ihm anbieten können, auch wirklich möchte. Ob es sinnvoll ist, alles, was möglich ist, auch zu tun. Mit dieser Frage sind alle Ärzte groß geworden. Wenn der Patient mit sich und seinem Leben bereits abgeschlossen hat, obwohl man noch etwas tun könnte, seine Lebenszeit zu verlängern, dann müssen wir das akzeptieren. Zum Glück können wir auch innerhalb dieser ethischen Grenzen unsere Therapieangebote immer weiter ausbauen. Hierzu gehören auch Unterstützungsangebote wie Psychoonkologie,
Palliativmedizin oder Traditionelle Chinesische Medizin.
Vier Tage lang diskutieren renommierte Neurochirurgen aktuelle Themen, das Programm ist wieder vielfältig. Welche Themen liegen Ihnen besonders am Herzen? Was sind Ihre Highlights während der Tagung?
Mich interessiert eigentlich alles. Ich freue mich auf viele wissenschaftliche Diskussionen. Einen persönlichen Schwerpunkt habe ich im Gebiet der Neuroonkologie. Außerdem freue ich mich auf die sportliche Herausforderung beim NeuroRun. Man muss den Körper schon etwas üben, schließlich muss er das Gehirn spazieren tragen...