Sonntag, 24. November 2024
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Medizin

Große Lücken in der Kopfschmerzversorgung: Mütter und Heranwachsende sind erheblich unterversorgt

von Birgit Frohn

Große Lücken in der Kopfschmerzversorgung: Mütter und Heranwachsende sind erheblich unterversorgt
© Marco – stock.adobe.com
Zahlreiche Schwangere, Stillende und Frauen im gebärfähigen Alter leiden regelmäßig unter Migräne. Unter Kindern und Jugendlichen schießt die Häufigkeit von Spannungsschmerzen und Migräne rasant in die Höhe. Ungeachtet dessen: Bei beiden Patientengruppen bestehen enorme Defizite in Therapie wie Prophylaxe. Das ist keineswegs allein der dürftigen Datenlage geschuldet. Auch die fehlende staatliche Unterstützung trägt deutlich dazu bei.
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Frauen leiden dreimal so häufig unter Migräne wie Männer: Die höchste Prävalenz liegt im gebärfähigen Alter (1). Genau darin liegt das Problem. Denn unter den über 700.000 Müttern in spe sind rund 150.000 von der Erkrankung betroffen. Und stehen damit vor der schwierigen Frage, wie sie während der Schwangerschaft und Stillzeit mit ihrer medikamentösen Behandlung umgehen sollen.

Migränetherapie: „Wirksamkeit für die Mutter – Sicherheit für das Kind“

Da Schwangere weitgehend von systematischen Arzneimittelstudien ausgeschlossen sind, fehlen Daten zur Sicherheit und Wirksamkeit für den Einsatz der üblichen Medikamente gegen Migräne. „Das schafft große Unsicherheit in dieser sensiblen Lebensphase, bei Ärzten wie werdenden Müttern“, betont Dr. Wolfgang E. Paulus, Mitglied der Deutschen Migräne- und Kopfschmerzgesellschaft (DMKG) und Leiter der Beratungsstelle für Reproduktionstoxikologie an der Universitäts-Frauenklinik Ulm. „Denn es geht stets um Wirksamkeit für die Mutter als auch um Sicherheit für das Kind“. Eine Herausforderung, auch in der Stillzeit. Denn trotz der nicht-medikamentösen Optionen wie unter anderem Akupunktur stehen Arzneimittel im Fokus der Therapie.
 
Der Contergan-Skandal ist unvergessen
Die Tragödie, die der Einsatz des sedativen Wirkstoffs Thalidomid Anfang der 1960er-Jahre verursachte, wirft bis heute ihre Schatten. Weltweit kamen damals rund 10.000 Kinder mit schweren Missbildungen zur Welt. Das Ungeborene im Mutterleib durch Medikamente möglicherweise geschädigt werden, bleibt allgegenwärtig in den Köpfen. „Seither herrscht große Vorsicht“, so Dr. Paulus.

Kopfzerbrechen bei Paracetamol

Das Ausmaß der Verunsicherung zeigt sich an Paracetamol, weltweit eines der am häufigsten eingesetzten und als sicher geltenden Medikamente zur Akutbehandlung während einer Schwangerschaft. Doch es mehrten sich Hinweise auf mögliche Auswirkungen auf die Ungeborenen wie etwa ein erhöhtes Risiko für Asthma bronchiale, ADHS und Autismus. Erst kürzlich konnte eine große Studie aus Schweden an fast 2,5 Millionen Kindern dazu Entwarnung geben (2). Die in vorhergehenden Modellen beobachteten Assoziationen gelten als möglicherweise durch familiäre Einflussfaktoren bedingt. „Damit wird Paracetamol nun weiterhin als sicherstes Analgetikum in allen drei Phasen der Schwangerschaft als auch in der Stillzeit gewertet“, so Dr. Paulus.
 
 

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Erschienen am 07.02.2024Laut einer Studie fühlen sich Menschen mit Migräne in allen Bereichen des Alltags diskriminiert. Mehr dazu lesen Sie hier!

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© ArtBackground – stock.adobe.com

Eingeschränkte Auswahl bei der Migräne-Therapie während der Schwangerschaft

Die Palette an Medikamenten zur Therapie während der Schwangerschaft ist laut Dr. Paulus sehr begrenzt. Bei einigen Wirkstoffen bestehen erhebliche Bedenken. Andere, wie Ibuprofen, bieten eine gewisse Sicherheit. Allerdings sollte dessen Einnahme nicht im letzten Drittel der Schwangerschaft erfolgen. Unter anderem deshalb, weil dieses nichtsteroidale Antirheumatika (NSAID) zu einer Hemmung von Prostaglandinen führen kann. „In der Stillzeit kann Ibuprofen dagegen wieder eingenommen werden, da es wenig milchgängig ist“. Auch bei Triptanen, vor allem Sumatriptan, kann nach den Worten von Dr. Paulus angesichts der ausreichenden Datenlage von ausreichender Sicherheit ausgegangen werden. Das Gleiche gilt für Metoclopramid, das gegen Übelkeit durch Migräne eingesetzt wird. Stets sollen die Medikamente jedoch „so niedrig dosiert und so kurz wie möglich“ angewendet werden. Von monoklonalen Antikörpern aus der Gruppe der CGRP-Antagonisten wie etwa Erenumab wird mangels Daten generell abgeraten.

Auch bei der Prophylaxe gibt es Einschränkungen. So gelten Betablocker wie Metoprolol und Amitriptylin als relativ sicher. Topiramat, langjährig etabliert zur Vorbeugung von Migräne, „ist dagegen in der Schwangerschaft streng kontraindiziert, so Dr. Paulus. Denn die Auswertungen weisen auf ein erhöhtes Risiko für Fehlbildungen und neurologische Entwicklungsstörungen der intrauterin exponierten Kinder hin (3). Auch bei Valproat besteht eine Kontraindikation im fertilen Alter.

Viele Fragezeichen auch in der Stillzeit

Für Stillende ist die Situation ebenfalls sehr unbefriedigend. Denn klinische Studien in dieser Phase fehlen bislang vollkommen. „Was tatsächlich in die Muttermilch übertritt, ist entsprechend nach wie vor kaum geklärt“. Bei monoklonalen Antikörpern wie Erenumab geht man inzwischen zumindest davon aus, dass sie wenig in die Muttermilch übergehen: „Denn es handelt sich dabei um große Proteinmoleküle“.

Mehr Evidenz und Finanzierung erforderlich

Mangels randomisierter klinischer Studien mit Schwangeren und Stillenden sind wir bei der medikamentösen Therapie von Migräne auf Beobachtungsstudien mit sehr inhomogenen Expositionsdaten angewiesen, beklagt Dr. Paulus. Das macht stets eine individuelle Nutzen-Risiko-Abwägung erforderlich: „Überwiegt die Gefahr einer embryonalen oder fetalen Schädigung durch die Medikation die Gefährdung von Mutter und Kind, wenn nicht therapiert wird?“

Einen Ausweg aus dem Dilemma bieten einzig mehr Studien, um mehr Evidenz zu haben. Allerdings gibt es hier seitens des Gesundheitswesens wenig Unterstützung. Die beiden Institutionen, die sich in Deutschland um Beratung und Risikobewertung kümmern, EMBRYOTOX an der Charité Berlin und REPROTOX am Universitätsklinikum Ulm, „sind chronisch unterfinanziert. Staatliche Unterstützung fehlt komplett.“ Deshalb fordert die DMKG, die bestehenden Institutionen finanziell zu stärken. „Damit könnten deren Beratungs- und Forschungsaktivitäten intensiviert und eine bessere Versorgung der betroffenen Frauen gewährleistet werden“, so Dr. Paulus.

Rapider Anstieg von Migräne und Kopfschmerzen in der jungen Generation

Die enorme Zunahme von Kopfschmerzen bei Kindern und Jugendlichen (4) bezeichnet Prof. Dr. Gudrun Goßrau, Leiterin der Kopfschmerzambulanz am Universitätsklinikum Dresden, als alarmierend: „Die Zahl der Betroffenen wächst stetig, besonders bei Mädchen und Heranwachsenden zwischen sieben und 13 Jahren“. Einer Erhebung der AOK zufolge betrug der Anstieg bei Spannungskopfschmerzen und Migräne, den häufigsten Kopfschmerzformen, von 2014 bis 2017 rund 70%. Dennoch: Unter mehr als 2.700 Schülern mit mindestens zwei monatlichen Kopfschmerztagen holten 80% keine ärztliche Hilfe ein (5). Das ist laut Prof. Goßrau auch insofern problematisch, weil unbehandelte Kopfschmerzen im Kindes- und Jugendalter chronifizieren und sich bis ins Erwachsenenalter fortsetzen können: „Das hat Folgen für die Lebensqualität und Zukunftsperspektiven“.
 
 

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Migräne im Schulalter belastet den Alltag enorm

Eine der Hauptursachen für gesundheitliche Einschränkungen bei Heranwachsenden und jungen Erwachsenen ist Migräne (6). Die Auswirkungen sind erheblich: Schulische Leistungen und allgemeine Schulfähigkeit sind beeinträchtigt, dazu erleben die Betroffenen emotionale Belastungen sowie soziale Isolation im Alltag (7).  

Darüber hinaus, so Prof. Goßrau, „gibt es viele Komorbiditäten, auch im psychischen Bereich, sowie mehrere andere Schmerzerkrankungen“. Das bestätigen auch Krankenkassendaten von mehr als 56.000 deutschen Schülern im Alter von 15 Jahren. Sie zeigten im Verlauf von zehn Jahren ein 2,1-fach höheres Risiko für stressbedingte, auch somatoforme Störungen und ein 1,6-fach höheres Risiko für Rückenschmerzen (8).
 
„Bei den Auslösern für Migräne stehen Umweltreize im Vordergrund. Diese Faktoren, wie beispielsweise ständige Reizüberflutung und zu intensive Mediennutzung, können zur Falle werden“.
Prof. Dr. Gudrun Goßrau


Migräne erhöht die Schmerzempfindlichkeit und Reizwahrnehmung

Wie eine aktuelle Studie des Universitätsklinikum Dresden belegt, steigert Migräne bei Kindern und Jugendlichen die Wahrnehmung von Schmerzreizen (9). Zudem riechen und hören die Betroffenen deutlich besser (9). Das ist nach den Worten von Prof. Goßrau „ein weiterer Stolperstein“. „Die erhöhte Gesamtsensibilität für Sinnesreize kann den Alltag stark beeinträchtigen und möglicherweise zur Chronifizierung der Schmerzen beitragen“.

Bewusstsein für die Problematik schärfen

Migräne und Kopfschmerzen bei Kindern und Jugendlichen sind ernst zu nehmende Erkrankungen. Allerdings werden sie oft nicht so wahrgenommen: „Diagnostik und Therapie werden nicht konsequent verfolgt, passende Behandlungsmöglichkeiten sind zu wenig vorhanden“, beklagt Prof. Goßrau. Es bedarf besserer Versorgungsstrukturen und Aufklärung von Eltern, Lehrkräften und medizinischem Personal. Darüber hinaus müssen die Forschungsförderung intensiviert und multimodale Behandlungsansätze wie etwa das Dresdner Kinderkopfschmerz-Programm (DreKiP) flächendeckend angeboten werden.
 
„Attacke! Gemeinsam gegen Kopfschmerzen“
So lautet die Initiative, mit der die DMKG die Versorgung von Patientinnen und Patienten mit Kopfschmerzen verbessern möchte. Im Fokus stehen dabei Migräne, Kopfschmerz durch Medikamentenübergebrauch, Kopfschmerz vom Spannungstyp und Clusterkopfschmerz. Die Zielgruppe umfasst all jene, die mit der Versorgung der davon Betroffenen befasst  sind. Sie finden auf der Webseite www.attacke-kopfschmerzen.de zahlreiche Informationen und Angebote für ihre Tätigkeit.
Obwohl die Initiative von 5 Pharmaunternehmen finanziell unterstützt wird, sind die fachlichen Inhalte von unabhängigen Experten der DMKG verfasst und frei von Werbebotschaften.
 

Quelle: Pressekonferenz der Deutschen Migräne- und Kopfschmerzgesellschaft e.V.(DMKG) zum Deutschen Kopfschmerztag 2024 am 5.09.2024
Literatur:

(1) Diener H. C. et al., Therapie der Migräneattacke und Prophylaxe der Migräne, S1-Leitlinie, 2022, DGN und DMKG, in: Deutsche Gesellschaft für Neurologie (Hrsg.), Leitlinien für Diagnostik und Therapie in der Neurologie, abrufbar unter: https://www.dmkg.de/files/dmkg.de/Empfehlungen/030057_LL_Migra%CC%88ne_2022_1671539591923.pdf, letzter Zugriff: 18.09.2024.
(2) Ahlqvist V. H. et al. (2024) Acetaminophen Use During Pregnancy and Children’s Risk of Autism, ADHD, and Intellectual Disability, JAMA, DOI: 10.1001/jama.2024.3172.
(3) Bjørk M. H. et al. (2022) Association of Prenatal Exposure to Antiseizure Medication With Risk of Autism and Intellectual Disability, JAMA Neurology, DOI: 10.1001/jamaneurol.2022.1269.
(4) Krause L. et al. (2019) Kopf-, Bauch- und Rückenschmerzen bei Kindern und Jugendlichen in Deutschland. Bundesgesundheitsbl 2019, abrufbar unter: https://www.rki.de/DE/Content/Kommissionen/Bundesgesundheitsblatt/Downloads/2019_10_Krause.pdf?__blob=publicationFile, letzter Zugriff: 18.09.2024.
(5) Nieswand V. et al. (2019) The prevalence of headache in German pupils of different ages and school types, Cephalalgia, DOI: 10.1177/0333102419837156.
(6) Stovner LJ. et al. (2018) GBD 2016 Headache Collaborators. Global, regional, and national burden of migraine and tension-type headache, 1990-2016: a systematic analysis for the Global Burden of Disease Study 2016, The Lancet Neurology, DOI: 10.1016/S1474-4422(18)30322-3.
(7) Canfora M. et al. (2023) More Than a Headache: Lived Experience of Migraine in Youth, Pediatric neurology, DOI: 10.1016/j.pediatrneurol.2023.05.019.
(8) Gerstl L. et al. (2021) Migraine and the development of additional psychiatric and pain disorders in the transition from adolescence to adulthood. Cephalalgia, DOI: 10.1177/03331024211021792.
(9) Pieniak M. et al. (2024) Children and adolescents with primary headaches exhibit altered sensory profiles – a multi-modal investigation. J Headache Pain, DOI:10.1186/s10194-024-01819-x.

 
 

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