Die Differenzen zwischen Evas und Adams ziehen sich durch alle medizinischen Fachgebiete. Entsprechend ist Gendermedizin laut Prof. Dr. Dr. Vera Regitz-Zagrosek auch als interdisziplinäres Konzept zu sehen. „Dieses erfordert eine fachübergreifende Zusammenarbeit“, so die Gründungsdirektorin des „Berlin Institute for Gender in Medicine" (GIM) an der Charité Berlin weiter.
Prof. Regitz-Zagrosek, die renommierte Pionierin der Gendermedizin, ist Kardiologin. Entsprechend ist die genderspezifische Forschung und Datenlage in diesem Gebiet am meisten fortgeschritten – und deckte eine lange Liste geschlechtsspezifischer Unterschiede auf. Ein Beispiel von vielen: Sterblichkeit nach Myokardinfarkt. „Es ist ganz klar gezeigt worden (1), dass Frauen einen
Herzinfarkt schlechter überleben als Männer“, so Prof. Regitz-Zagrosek. Denn Frauen und Männer unterscheiden sich deutlich bei ischämischen Herzerkrankungen und deren Symptomen. „Komplizierend kommt hinzu, dass Risiko und Manifestation ischämischer Herzerkrankungen bei Frauen vom Alter abhängen“. Prämenopausal ist das Risiko gering, zwischen 45 und 70 Jahren ist es moderat und ab dann schnellt es in die Höhe. Auch die Risikofaktoren an sich sind andere. So analysierte eine Studie kürzlich die Hintergründe von Herzinfarkten bei jungen Frauen (2). 75,5% waren Raucherinnen, 55,1% berichteten über hohen emotionalen Stress und 31,2% hatten Komplikationen in der Schwangerschaft hinter sich.
Risikofaktoren sind geschlechtsspezifisch anders…
Die Auswirkungen der traditionellen Risikofaktoren wie Alter, Blutdruck, Diabetes, Lipide, Rauchen und BMI unterscheiden sich bei Männern und Frauen altersabhängig. Neu erkannte Risikofaktoren wie Depressionen, Stress, chronische Nierenerkrankungen, Autoimmun-entzündliche Erkrankungen und Tumortherapiefolgen sind häufig geschlechtsabhängig und treten vermehrt bei Frauen auf. Dazu gibt es laut Prof. Regitz-Zagrosek frauenspezifische Faktoren, die kardiometabolische Risikofaktoren sowie die Auswirkungen von Arteriosklerose signifikant negativ beeinflussen. Dazu zählen etwa Schwangerschaftskomplikationen wie Gestationsdiabetes, Präeklampsie und peripartale Depression, das polyzystische Ovarialsyndrom (PCOS) und eine vorzeitige Menopause.
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Erschienen am 12.09.2024 • Der aktuelle Herbericht 2024 zeigt, dass die Sterblichkeit durch Herzkrankheiten wieder angestiegen ist. Lesen Sie hier mehr dazu!
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…und werden schlechter kontrolliert
Bei Frauen werden seltener Kontrollen der Blutfettspiegel, von Blutdruck und HbA1c-Werten durchgeführt, sowohl in der Primärprävention als auch in der Sekundärprävention bei einer bekannten Herzerkrankung (3). „Das heißt, Frauen werden tatsächlich schlechter diagnostiziert“, warnt Prof. Regitz-Zagrosek.
Um das zu ändern, müssen bei weiblichen Patienten verstärkt routinemäßig alle Risikofaktoren geprüft und erhöhte Lipide (LDL-C, TGL und Lp(a)) umgehend behandelt werden. „Die Lp(a)-Spiegel sind wiederholt zu messen, da sie durch die Östrogene verändert werden“. Eine weitere Empfehlung von Prof. Regitz-Zagrosek ist Frauen mit familiärer Hypercholesterinämie engmaschig zu überwachen, „um die Zeitverzögerung der Statin-Therapie aufgrund von Schwangerschaft und Stillzeit zu minimieren“. Und: Die ESC-Präventionsleitlinie 2021 empfiehlt Vorsorgeuntersuchungen für Bluthochdruck und Diabetes bei Frauen mit einer Vorgeschichte von Gestationshypertonie, Präeklampsie, PCOS und Gestationsdiabetes.
Positionspapiere der Fachgesellschaften
Apropos ESC: Sowohl von der European Society of Cardiology ESC wie auch der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie DGK sind inzwischen Positionspapiere zu den zahlreichen geschlechtsspezifischen Unterschieden verfasst worden.
„Ist das Wissenschaft oder kann das weg?“
Wurde ironisch von Prof. Regitz-Zagrosek gefragt… Unter anderem zeigt die Veröffentlichung des MC Kinsey Health Institutes „The state of US women´s heart health: A path to improved health and financial outcomes“, „dass das überhaupt nicht weg kann“. Denn wird der kardiovaskuläre Erkrankungs-Gap zwischen Männern und Frauen geschlossen, könnten US-Frauen 1,6 Millionen verlorene Lebensjahre wegen schlechter Gesundheit und frühem Tod zurückgewinnen. Die US-Wirtschaft würde bis 2040 jährlich 28 Milliarden Dollar sparen. „Also würden wir auch finanziell gewinnen, wenn wir Frauen und Männer spezifischer behandeln würden“.
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Bei ihr wirkt es anders als bei ihm
Laut Prof. Dr. Michael Becker, Chefarzt der Klinik für Kardiologie, Nephrologie und Internistische Intensivmedizin und Leiter des Frauenherz-Zentrums am Rhein-Maas Klinikum Würselen, umfassen die Unterschiede alle Bereiche: Sie reichen von Epidemiologie über Biomarker bis hin zur Therapie. So gibt es bei Frauen etwa deutlich häufiger Komplikationen mit Schrittmacher-Systemen. „Besondere Probleme bereitet jedoch die medikamentöse kardiologische Therapie“, so Prof. Becker. Weibliche Patienten profitieren davon zwar mehr als männliche, haben indessen mehr mit Neben- und Wechselwirkungen zu kämpfen. „Denn bei der oralen Therapie gibt es fundamentale Unterschiede“.
„Das Frauenherz ist nicht einfach nur ein kleineres Männerherz“.
Prof. Dr. Michael Becker
Arzneimittel gehen andere Wege
Bereits bei der Resorption geht es los: Da Frauen einen kleineren Magen-Darm-Trakt, eine langsamere Magen-Darm-Entleerung und geringere Magensäuresekretion haben, ist die Bioverfügbarkeit von oralen Medikamenten höher als bei Männern. „Das müssen wir wissen, wenn es um Nebenwirkungen geht“. Bei der Distribution im Körper gibt es weitere Unterschiede. Frauen haben einen höheren Fettanteil und einen niedrigeren Anteil an Wasser, weshalb sich lipophile und hydrophile Wirkstoffe anders verteilen. So reichert sich das lipophile Diazepam stärker im Fettgewebe an, womit es bei Frauen zu einer deutlich längeren Wirkdauer kommt. Beim hydrophilen Paracetamol hingegen verstärkt sich die Wirkung deutlich, da es sich stärker im Wasser verteilt. Das heißt, so Prof. Becker: „Außer die adäquaten Wirkstoffe zu verordnen, müssen wir auch berücksichtigen, ob es sich um hypo- oder lipophile Substanzen handelt“. Das kann entsprechend eine Reduzierung der Dosis oder längere Einnahmeintervalle erforderlich machen.
Verschiedenheiten gibt es auch bei der Proteinbindung. Diese ist bei Frauen durchschnittlich geringer, sodass es zu einer höheren Konzentrierung des freien Arzneimittels kommt. Und zudem zu einer stärkeren Wirkung von proteinbindenden Medikamenten wie etwa Acetylsalicylsäure. „Die Metabolisierung ist ebenfalls geschlechtsspezifisch geprägt“: Frauen haben eine höhere Aktivität von CYP3A4, das für den Abbau von rund der Hälfte aller Arzneimittel verantwortlich ist, und von CYP2D6. Das führt zu einer schnelleren Eliminierung und damit kürzeren Wirkdauer von CYP3A4-Substanzen wie zum Beispiel Verapamil und zu einer reduzierten Verträglichkeit von Beta-Blockern durch CYP2D6-Abhängigkeit. Auch die Elimination ist unterschiedlich. Indem Frauen eine geringere Aktivität der Nierenfunktion haben, kommt es zur erhöhten Anreicherung von renal ausscheidenden Medikamenten wie etwa NSAR. „Diese wichtigen geschlechtssensiblen Unterschiede sollten nicht nur kardiologische Kollegen, sondern auch Hausärzte kennen und beachten“, so der Appell von Prof. Becker.
Weiblich und im Hintertreffen
Frauen bekommen oftmals keine leitliniengerechte Versorgung. Laut Prof. Becker wird eine Herzinsuffizienz bei Männern viel schneller diagnostiziert. Noch eklatanter: „Männer werden intensiver und länger reanimiert“.
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Harte Fakten ebenso aus Diabetologie und Endokrinologie
Übergewicht und Adipositas grassieren ungebremst. „Am meisten steigt die Prävalenz allerdings bei jüngeren Frauen an, kontinuierlich seit Jahren“, gibt Prof. Dr. Petra-Maria Schumm-Draeger, Ärztliche Direktorin des Zentrums Innere Medizin und Diabetologie Fünf Höfe in München, zu bedenken. „Diese Frauen haben ein deutlich höheres Risiko als Männer, ein metabolisches Syndrom oder einen Typ-2-Diabetes zu entwickeln“. Zudem weisen sie mehr und ungünstigere Risikofaktoren auf – allen voran häufiger eine gestörte Glukosetoleranz sowie postpandriale Hyperglykämie und in Folge vermehrt oxidativer Stress. Dadurch nimmt die Prävalenz der Hypertonie zu und entzündliche, für die Progression der Arteriosklerose entscheidende, Prozesse werden stärker aktiviert. In Folge haben laut Prof. Schumm-Draeger „Patientinnen mit Typ-2-Diabetes oder metabolischem Syndrom unabhängig vom menopausalen Status ein 4- bis 6-fach erhöhtes Risiko für eine koronare Herzkrankheit (KHK)“. Bei männlichen Betroffenen ist dieses im Vergleich zu Gesunden 2- bis 3-fach erhöht. Auch bezüglich der Prognose gibt es gravierende Unterschiede: Sie ist bei Frauen 5-fach, bei Männern 2-fach schlechter. „Entsprechend ist bei weiblichen Patienten eine steigende kardiovaskuläre Mortalität zu verzeichnen, während sie bei betroffenen Männern deutlich abgenommen hat“.
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Gender Gaps auch bei CKD
Laut Prof. Dr. Miriam Banas, Nephrologin am Universitätsklinikum Regensburg, sind insgesamt mehr Frauen an der chronischen Nierenkrankheit (CKD) erkrankt. Eine große schwedische Studie (4) zeigt zudem, dass bei Frauen die CKD-Diagnose seltener und später gestellt wird: Das Durchschnittsalter beträgt 77 Jahre. „Was mit daran liegt, dass Frauen deutlich weniger an die Nephrologie überwiesen werden“, so Prof. Banas. Desweiteren wird bei Frauen seltener Kreatinin und die geschätzte glomeruläre Filtrationsrate eGFR kontrolliert sowie seltener eine Albuminurie gemessen. Insgesamt gesehen erhalten Männer häufiger eine leitliniengerechte medikamentöse Therapie. Dazu passt das Ergebnis einer anderen Studie (5), das Frauen seltener einen SGLT2-Inhibitor verordnet bekommen – ein Wirkstoff, der auch bei CKD eine zentrale Rolle spielt.
Nach wie vor, so Prof. Banas, sind Frauen in CKD-Studien immer unterrepräsentiert, in allen Altersgruppen (6). Interessanterweise ist dies in Europa stärker ausgeprägt als in anderen Ländern. Dass es sehr wichtig ist, Frauen in Studien aufzunehmen, zeigt sich etwa am Beispiel Salz und Blutzuckerregulation. Zwar erhöht Salz bei beiden Geschlechtern den Blutdruck. „Doch bei Frauen liegt das am Anstieg von Aldosteron, bei Männern hingegen an einer reduzierten Nierendurchblutung“. In Konsequenz daraus, so Prof. Banas weiter, gibt es mögliche unterschiedliche Therapieoptionen bei Hypertonie.
„Die Nephrologie bleibt nicht untätig“
So Prof. Banas: Im April 2024 wurden die Leitlinien der KDIGO zur CKD aktualisiert und viele Sex- und Genderaspekte aufgenommen. „Sowohl bei Diagnose, Medikation und Forschung ist das biologische Geschlecht klar zu berücksichtigen“.
Quelle: Live-Fortbildung „Akte XX/XY – Genderaspekte in der Inneren Medizin“ am 7.11.2024; Veranstalter Boehringer Ingelheim und Lilly Allianz.
(1) Fischer A. et al. (2022) ST-Elevation Myocardial Infarction as a First Event, Dtsch Arztebl Int 2022; 119: 285-92, DOI: 10.3238/arztebl.m2022.0161
(2) Manzo-Silberman S. et al.(2024) Characteristics of Young Women Presenting With Acute Myocardial Infarction: The Prospective, Multicenter, Observational Young Women Presenting Acute Myocardial Infarction in France Study, J Am Heart Assoc., 13 (19): e034456, DOI: 10.1161/JAHA.124.034456.
(3) Yael Rachamin, Vera Regitz-Zagrosek (2022) Geschlechterunterschiede in der kardiovaskulären Prävention, Primary and hospital care Allgemeine Innere Medizin 2022; 22 (7): 208 – 210, DOI: 10.4414/phc-d.2022.10543.
(4) Swartling O. et al. (2022) Sex differences in the recognition, monitoring and management of CKD in healthcare. JASN 33: 1903 – 1914, DOI: 10.1681/ASN.2022030373.
(5) Ozaki A. F. et al. (2023) Prescribing patterns and factors associated with sodium–glucose cotransporter-2 inhibitor prescribing in patients with diabetes mellitus and atherosclerotic cardiovascular disease, CMAJ Open 13, 2023 11 (3) E494-E503, DOI: 10.9778/cmajo.20220039.
(6) Pinho-Gomes A. C. et al. (2023) Women's representation in clinical trials of patients with chronic kidney disease, Clinical Kidney Journal 2023; 16 (9): 1457 – 1464, DOI: 10.1093/ckj/sfad018.