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Allergen-Immuntherapie: Wie gezielte Desensibilisierung das Immunsystem umprogrammiert

von Anika Mifka

Allergen-Immuntherapie: Wie gezielte Desensibilisierung das Immunsystem umprogrammiert
© Jürgen Kottmann - stock.adobe.com
Die Allergen-Immuntherapie (AIT) ist eine Behandlung zur langfristigen Linderung von Allergien, die das Immunsystem durch wiederholte Gabe von Allergenen desensibilisiert. Sie wird bei Allergien wie Heuschnupfen, Asthma und Insektengiftallergien eingesetzt und ist die einzige Therapie, die die Ursache von Allergien bekämpft, indem sie die allergische Reaktion dauerhaft abschwächt.

Entwicklung und Individualisierung der AIT

Bereits 1911 entwickelte Leonard Noon das Prinzip der Hyposensibilisierung, indem er Pollenextrakte in steigenden Dosen verabreichte, um die Toleranz gegenüber Allergenen zu erhöhen. Diese Methode legte den Grundstein für die heutige AIT, die sich seitdem stark weiterentwickelt hat. Im Laufe des 20. Jahrhunderts wurde die subkutane Immuntherapie (SCIT) zur Standardtherapie, die sich in den darauffolgenden Jahrzehnten als effektiv und sicher erwies (1). In den 1980er Jahren kam die sublinguale Immuntherapie (SLIT) auf den Markt und gewann schnell an Popularität, da sie eine einfachere, sicherere und weniger invasive Alternative zur SCIT darstellt (2). Durch Fortschritte in der Herstellung von standardisierten Allergenextrakten und der Erforschung der immunologischen Grundlagen konnte die AIT immer gezielter und effektiver eingesetzt werden. In den letzten Jahren haben moderne diagnostische Verfahren wie die Komponentendiagnostik dazu beigetragen, die Therapie weiter zu individualisieren, sodass Patient:innen spezifisch auf die für sie relevanten Allergenkomponenten behandelt werden können (3).

Umprogrammierung des Immunsystems

Die AIT greift direkt in die immunologische Regulation ein und wirkt über eine Umprogrammierung des Immunsystems. Die wiederholte Gabe von Allergenen führt zunächst zu einer Aktivierung von T-Zellen, die über eine Immunantwort der T-Helferzellen (TH-Zellen) vom Typ 2 zu einer Überproduktion von IgE führen. TH-Zellen bilden eine Subgruppe der T-Lymphozyten und sind für die Erkennung von Antigenen zuständig. Die durch TH2-Zellen vermittelte Immunreaktion begünstigt die allergische Kaskade, welche über die Freisetzung von Histamin und anderen Mediatoren Symptome wie Rhinitis und Asthma auslöst (3). Während der AIT kommt es jedoch zu einer schrittweisen Verschiebung von der TH2- zur TH1-Antwort, was eine Dämpfung der allergischen Entzündungsreaktion bewirkt. Zudem spielen regulatorische T-Zellen (Tregs) eine zentrale Rolle, da sie die allergische Reaktion kontrollieren und die Toleranz gegenüber den verabreichten Allergenen erhöhen. Tregs fördern die Produktion von IgG4, einem "blockierenden" Antikörper, der das Allergen abfängt, bevor es an IgE auf Mastzellen oder Basophilen binden kann. Dies verhindert die Freisetzung von Histamin und lindert so die allergischen Symptome (4).

Unterschiedliche Applikationsformen: SCIT und SLIT

Die SCIT ist eine gut etablierte Therapieform, die durch subkutane Injektionen von Allergenextrakten in steigender Dosis durchgeführt wird. SCIT erfordert in der Regel regelmäßige Arztbesuche, insbesondere während der Anfangsphase (Aufdosierungsphase), in der die Dosierung wöchentlich erhöht wird. Nach der Erhaltungsphase, die üblicherweise alle 4 bis 6 Wochen erfolgt, wird die Therapie über 3 bis 5 Jahre fortgesetzt. SCIT gilt als hochwirksam, ist jedoch aufgrund der invasiven Injektionen mit einem höheren Risiko von systemischen Nebenwirkungen wie anaphylaktischen Reaktionen verbunden (5).

Die SLIT bietet eine nicht-invasive Alternative, bei der die Allergenpräparate in Form von Tabletten oder Tropfen täglich zuhause verabreicht werden. SLIT hat eine hohe Patientenakzeptanz, da sie einfacher anzuwenden ist und ein geringeres Risiko systemischer Nebenwirkungen birgt. SLIT-Tabletten, wie die 5-Gräser-Tablette, sind heute weit verbreitet und werden vor allem bei Pollen- und Hausstaubmilbenallergien eingesetzt. Allerdings erfordert SLIT eine strikte Therapieadhärenz, da die tägliche Einnahme über mehrere Jahre hinweg erfolgen muss, um den gewünschten Effekt zu erzielen (6).
 
 

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AIT bei Pollenallergien

Klimawandel verstärkt Pollenallergien in Deutschland

In Deutschland ist die Prävalenz von Pollenallergien in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich angestiegen. Schätzungsweise 15 bis 20% der Bevölkerung leiden an allergischer Rhinitis oder allergischem Asthma, die durch Pollen ausgelöst werden. Besonders häufig sind Sensibilisierungen gegenüber Birken-, Gräser- und Beifußpollen (7). Die Symptome reichen von milden Beschwerden wie Niesen und laufender Nase bis hin zu schwereren Reaktionen wie allergischem Asthma, das die Lebensqualität erheblich beeinträchtigen kann. Ein wesentlicher Faktor für den Anstieg von Pollenallergien ist der Klimawandel, der die Pollensaison verlängert und die Konzentration von Pollen in der Luft erhöht. Dies führt zu einer stärkeren Allergenexposition, was das Risiko für Sensibilisierungen und allergische Reaktionen erhöht (8).

Effektivität und Langzeitwirkung der AIT

Die AIT hat sich bei Pollenallergien als äußerst effektiv erwiesen. Ein prominentes Beispiel ist die 5-Gräser-Tablette, die zur SLIT verwendet wird. Sie enthält standardisierte Extrakte von 5 Gräserarten (Lolium perenne, Phleum pratense, Poa pratensis, Dactylis glomerata und Festuca pratensis), die zu den häufigsten Pollenallergenen gehören (9). In mehreren randomisierten, placebokontrollierten Studien konnte gezeigt werden, dass die 5-Gräser-Tablette nicht nur die Symptome während der Pollensaison signifikant reduziert, sondern auch eine langfristige Wirkung über die Behandlungsdauer hinaus zeigt. Nach 3-jähriger Therapie zeigte sich bei vielen Patient:innen eine anhaltende Besserung der Symptome, die bis zu 2 Jahre nach Therapieende anhielt (10).

Positive Effekte der AIT halten oft viele Jahre an

Langzeitstudien zur SCIT und SLIT belegen, dass die positiven Effekte der Therapie oft viele Jahre nach Abschluss der Behandlung anhalten. In einer großangelegten Studie zur SCIT bei Gräserpollenallergie profitierten 80% der Patient:innen 5 Jahre nach Therapieende weiterhin von einer signifikanten Reduktion der Symptomatik. Vergleichbare Ergebnisse wurden auch für SLIT dokumentiert. Diese Langzeitwirkung ist auf die nachhaltige Immunmodulation zurückzuführen, die durch die wiederholte Exposition gegenüber dem Allergen induziert wird (11).
 
 

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AIT bei Hausstaubmilbenallergien

Prävalenz und Risikofaktoren

Hausstaubmilbenallergien sind eine der häufigsten Ursachen für allergische Atemwegserkrankungen. In Europa sind etwa 10% der Bevölkerung betroffen, wobei die Prävalenz in feuchten, schlecht belüfteten Wohnräumen noch höher ist. Hausstaubmilben, insbesondere die Arten Dermatophagoides pteronyssinus und Dermatophagoides farinae, sind Hauptverursacher dieser Allergie, da ihre Kotpartikel und zerfallenden Körperteile starke Allergene enthalten. Risikofaktoren für die Entwicklung einer Hausstaubmilbenallergie umfassen eine genetische Prädisposition sowie Umweltfaktoren wie hohe Luftfeuchtigkeit und geringe Hygiene in Wohnräumen (12, 13).

Hausstaubmilbenallergie und Asthma

Hausstaubmilbenallergien sind eng mit der Entwicklung von allergischem Asthma verknüpft. Studien zeigen, dass bis zu 50% der Patient:innen mit Hausstaubmilbenallergie auch an Asthma leiden. Die inhalativen Allergene der Milben können eine chronische Entzündung der Atemwege verursachen, die schließlich zu einer Hyperreaktivität der Bronchien und Asthmaanfällen führt. Die rechtzeitige AIT kann das Fortschreiten von allergischer Rhinitis zu Asthma verhindern und so die Krankheitslast verringern (14, 15).

Fortschritte in der molekularen Allergiediagnostik

In den letzten Jahren hat sich die molekulare Allergiediagnostik, insbesondere die Komponentendiagnostik, als wertvolle Methode zur Differenzierung der Sensibilisierungen etabliert. Anstelle von Allergenextrakten werden hierbei spezifische Proteinkomponenten des Allergens getestet. Dies ermöglicht eine präzisere Diagnose und hilft, Patient:innen zu identifizieren, die von einer AIT besonders profitieren können. Moderne AIT-Präparate, die rekombinante Allergene oder gereinigte Allergenkomponenten enthalten, versprechen eine gezieltere Therapie. Sie reduzieren das Risiko von Nebenwirkungen und erhöhen gleichzeitig die Effektivität der Behandlung. Die Entwicklung solcher Präparate ist ein vielversprechender Ansatz für die Zukunft der AIT (16).
 
 

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Allergenqualität und -standardisierung

Bedeutung der Allergenqualität und -quantität für den Therapieerfolg

Die Qualität und Quantität der in der AIT verwendeten Allergenextrakte sind essenziell für den Therapieerfolg. Variationen in der Zusammensetzung der Allergenquellen können die Wirksamkeit der Therapie beeinträchtigen. Nur standardisierte Präparate mit definiertem Gehalt an Hauptallergenen garantieren eine konsistente Wirkung. Ein weiteres Problem ist die korrekte Dosierung der Allergene. Zu niedrige Dosen können ineffektiv sein, während zu hohe Dosen das Risiko von Nebenwirkungen erhöhen. Moderne Herstellungsprozesse zielen darauf ab, hochreine und standardisierte Extrakte zu produzieren, die eine präzise und sichere Dosierung ermöglichen (17). Doch trotz der Fortschritte in der Allergenstandardisierung zeigen Studien, dass es immer noch Unterschiede in der biologischen Aktivität von Allergenextrakten gibt, die von verschiedenen Herstellern produziert werden. Diese Heterogenität kann zu Variationen in der klinischen Wirksamkeit führen (18).

Personalisierung der AIT

Ein wesentlicher Fortschritt in der AIT liegt in der Personalisierung der Therapie. Durch die Komponentendiagnostik und die genetische Analyse von Patient:innen können Therapien individuell angepasst werden. Dies erhöht die Effektivität und Verträglichkeit der AIT, indem Patient:innen nur noch die für sie relevanten Allergenkomponenten erhalten. Auch genetische Marker, die auf eine höhere Anfälligkeit für schwere Nebenwirkungen hinweisen, könnten helfen, die Therapie sicherer zu gestalten (19).
Literatur:

(1) Noon & Freeman (1911): Prophylactic inoculation against hay fever. The Lancet, DOI: 10.1016/S0140-6736(00)82980-1.
(2) Incorvaia et al. (2020): Subcutaneous and sublingual allergen-specific immunotherapy: a tale of two routes. European Annals of Allergy and Clinical Immunology, DOI: 10.23822/EurAnnACI.1764-1489.150
(3) Resch et al. (2011): Molecular characterization of Der p 10: a diagnostic marker for broad sensitisation in house dust mite allergy. Clinical and Experimental Allergy, DOI: 10.1111/j.1365-2222.2011.03790.x
(4) Durham & Shamji (2022): Allergen immunotherapy: past, present and future. Nature Reviews Immunology, DOI: https://doi.org/10.1038/s41577-022-00786-1
(5) Klimek et al. (2019): Evolution of subcutaneous allergen immunotherapy (part 1): from first developments to mechanism-driven therapy concepts. Allergo Journal International, DOI: https://doi.org/10.1007/s40629-019-0092-4
(6) Lombardi et al. (2017): Pharmacoeconomics of sublingual immunotherapy with the 5-grass pollen tablets for seasonal allergic rhinitis. Clinical and Molecular Allergy, DOI: https://doi.org/10.1186/s12948-017-0058-3
(7) Bergmann et al. (2016): Aktueller Stand zur Verbreitung von Allergien in Deutschland. Allergo Journal International, DOI: 10.1007/s40629-016-0089-1
(8) https://gesund.bund.de/klimawandel-und-allergie#einleitung
(9) Oralair® Fachinfo
(10) Didier et al. (2015): Prolonged efficacy of the 300IR 5-grass pollen tablet up to 2 years after treatment cessation, as measured by a recommended daily combined score. Clinical and Translational Allergy, DOI: https://doi.org/10.1186/s13601-015-0057-8
(11) Jacobsen et al. (2012): Allergen-specific immunotherapy provides immediate, long-term and preventive clinical effects in children and adults: the effects of immunotherapy can be categorised by level of benefit -the centenary of allergen specific subcutaneous immunotherapy. Clinical and Translational Allergy, DOI: https://doi.org/10.1186/2045-7022-2-8
(12) Sarwar (2019): House Dust Mites: Ecology, Biology, Prevalence, Epidemiology and Elimination. Parasitology and Microbiology Research, DOI: 10.5772/intechopen.91891
(13) Bergmann (2022): Frequency of sensitizations and allergies to house dust mites. Allergo Journal International, DOI: https://doi.org/10.1007/s40629-022-00229-2
(14) Okasha et al. (2021): Association between house dust mites sensitization and level of asthma control and severity in children attending Mansoura University Children’s Hospital. The Egyptian Journal of Bronchology, DOI: https://doi.org/10.1186/s43168-021-00082-x
(15) Liew et al. (2019): House-Dust Mite Immunotherapy in Asthma: Uncertainties and Therapeutic Strategies. Current Treatment Options in Allergy, DOI: https://doi.org/10.1007/s40521-019-00236-9
(16) Asero et al. (2016): Use of Component-Resolved Diagnosis (CRD) for Allergen Immunotherapy (AIT). Current Treatment Options in Allergy, DOI: https://doi.org/10.1007/s40521-016-0069-1
(17) Nelson et al. (2013): Allergen Immunotherapy Extract Treatment Set Preparation: Making a Safer and Higher Quality Product for Patients. Current Allergy and Asthma Reports, DOI: https://doi.org/10.1007/s11882-013-0362-z
(18) Gonzalez-Perez (2019): Evaluation of major mite allergens from European standardized commercial extracts for in vivo diagnosis: addressing the need for precision medicine. Clinical and Translational Allergy, DOI: https://doi.org/10.1186/s13601-019-0254-y
(19) Incorvaia et al. (2021): Personalized medicine and allergen immunotherapy: the beginning of a new era? Clinical and Molecular Allergy, DOI: https://doi.org/10.1186/s12948-021-00150-z


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