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Epstein-Barr-Virus als Ursprung und Treiber der Multiplen Sklerose

von Martin Wiehl

Epstein-Barr-Virus als Ursprung und Treiber der Multiplen Sklerose
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Der Verdacht, dass die Multiple Sklerose (MS) viralen Ursprungs sein könnte, ist nicht neu. Er ist aber in jüngster Zeit durch zahlreiche Beobachtungen untermauert und konkretisiert worden. Diese haben auch dazu beigetragen, dass der Zusammenhang zwischen einer Epstein-Barr-Virus (EBV)-Infektion und MS in seinen dynamischen Entstehungsprozessen immer besser verstanden wird. Allein die Tatsache, dass mit 95% nahezu die gesamte Bevölkerung mit EBV durchseucht ist, macht nämlich deutlich, dass die Virusinfektion allein nicht der Grund für die Entstehung einer MS sein kann. Zugleich aber scheinen ältere und neuere epidemiologische Daten darauf hinzudeuten, dass eine EBV-Infektion wahrscheinlich eine Conditio sine qua non für die Manifestierung einer MS darstellt.
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Die Antwort auf die Frage des Entstehungsprozesses der MS ist in der genauen Analyse des hochkomplexen Zusammenspiels zwischen Virus und Immunantwort während der akuten Infektion auf Basis der genetischen Prädisposition und ihrer speziellen epigenetischen Ausprägungen des einzelnen Betroffenen zu finden. Solche dynamischen Prozesse, bei denen Zeitpunkte und zeitliche Abläufe eine wichtige Rolle zu spielen scheinen, sind im Folgenden auch bei der Befassung mit dem Krankheitsverlauf einer MS zu berücksichtigen, der wahrscheinlich ebenfalls mit der EBV-Infektion im Zusammenhang steht und durch die chronische Viruspersistenz beeinflusst wird.

Herpesviren bleiben in Wirtszellen in Latenz präsent

Denn als einer von 8 Vertretern der Familie der humanpathogenen Herpesviridae (HHV) ist auch EBV (HHV-4) nach Primärinfektion lebenslang in Subpopulationen bestimmter Wirtszellen in Latenz präsent, wozu bevorzugt B-Lymphozyten zählen. Dort kann es sich den Attacken der Immunzellen erfolgreich entziehen, geht aber auch immer wieder opportunistisch in seine lytische Replikation über und löst damit einerseits potentiell entzündliche Vorgänge per Immunantworten aus und sorgt andererseits für eine Infektion neuer Wirtszellen und somit für seinen weiteren Verbleib im menschlichen Wirtsorganismus.

Dass eine solche lebenslange Koexistenz zwischen Viren und Wirtsorganismus häufig völlig unproblematisch ohne sichtbare oder spürbare Krankheitssymptome verläuft, ist wohl auf die Besonderheiten der HHV zurückzuführen, die entwicklungsgeschichtlich zu den ältesten und deshalb auch am besten an den Menschen angepassten Viren zählen. Während vom reinen Infektionsgeschehen her gesehen eher subklinische Verläufe zu erwarten sind, scheinen die durchaus vorhandenen Risiken einer komplikationsträchtigen EBV-Infektion in 2 grundsätzlich bedeutsamen Gesichtspunkten zu liegen. Zum einen ist dies der Zeitpunkt der Infektion im Laufe des Lebens des Infizierten und zum anderen die individuelle genetische und epigenetische Ausstattung des Infizierten, die infolge eines besonderen Umgangs mit dem Virus in pathologische Erscheinungen mündet, zu denen neben den EBV-assoziierten Lymphomen wahrscheinlich Autoimmunerkrankungen wie systemischer Lupus erythematodes (SLE) und eben auch die MS zählen.
 
Überblick humane Herpesviren (Quelle: Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung)
Virus Abkürzung Erkrankungen
Herpes-Simplex-Virus 1 HSV-1 Lippenherpes
Herpes-Simplex-Virus 2 HSV-2 Genitalherpes
Varizella-Zoster-Virus VZV Windpocken, Gürtelrose
Epstein-Barr-Virus EBV Pfeiffersches Drüsenfieber (infektiöse Mononukleose), Nasopharynxkarzinom , Burkitt- oder Hodgkin-Lymphom
Cytomegalievirus CMV Cytomegalie
Humanes Herpesvirus 6 HHV-6 Dreitagefieber (Roseola infantum, Exanthema subitum)
Humanes Herpesvirus 7 HHV-7 Dreitagefieber (Roseola infantum, Exanthema subitum)
Humanes Herpesvirus 8 / Kaposi-Sarkom-assoziiertes Herpesvirus HHV-8 / KSHV Kaposi-Sarkom, primäres Effusionslymphom, Morbus Castleman














Die Pioniere der modernen MS-Therapie basieren auf der Virus-Hypothese

Die Vermutung, dass die MS durch ein infektiöses Agens verursacht oder zumindest in Gang gebracht wird, ist so alt wie die wissenschaftliche Befassung mit der Autoimmunerkrankung des zentralen Nervensystems (ZNS) selbst. Während zunächst alle möglichen Erreger als Kandidaten genannt wurden und ebenso schnell wieder von der Bildfläche verschwanden, gerieten zusehends virale Pathogene ins Visier. Dieser Anfangsverdacht ließ sich zwar nicht eindeutig bestätigen, hatte aber immerhin einen wesentlichen Anteil an der Entwicklung und Einführung der ersten zielgerichteten immunmodulatorisch wirksamen MS-Therapien. So konnte für die Beta-Interferone als Pioniere der modernen MS-Therapie zwar kein spezieller viraler Erreger als ihr Target identifiziert werden, aber gerade die allgemeinen, nicht auf spezielle Viren ausgerichtete Eigenschaften der Typ-I-Interferone ließen ihre Anwendung bei MS attraktiv erscheinen.

Beta-Interferone wirksam bei viralen Erkrankungen

Für die Virus-Hypothese der MS ganz allgemein sprechen laut Prof. Dr. Gavin Giovannoni, London (UK), zudem Daten aus Kollektiven von HIV-Patienten unter multipler antiviraler Therapie. So war das Risiko einer Neumanifestation einer MS bei HIV-Patienten zweier Studien aus den Jahren 2013 und 2014 zufolge deutlich vermindert, wenn sie zur Gruppe der Personen zählten, die dauerhaft antiviral behandelt wurden (1, 2). Zu ganz ähnlichen Ergebnissen hinsichtlich des Zeitpunktes und des Ausmaßes einer antiviralen Therapie kam eine Untersuchung, die bereits in den 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts zeigen konnte, dass akute Virusinfektionen bzw. -Reaktivierungen, darunter insbesondere Herpes Zoster (HZ), mit Interferon beta erfolgreich therapiert werden können – aber nur, wenn das Interferon hochdosiert über mindestens 5 Tage verabreicht wird und gleichbleibend hohe Wirkspiegel garantiert (3). Eine dermaßen intensivierte antivirale Therapie wurde zwar für keines der Interferon-beta-Präparate bei MS erprobt, initial wurde aber dennoch diese Idee verfolgt, ohne dass es jemals zu einem entsprechenden Wirksamkeitsbeweis wie bei der erfolgreichen HZ-Therapie hätte kommen können.
 
 

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Neuere epidemiologische Hinweise rücken das EBV ins Visier

Nach anfänglicher Musterung verschiedener Kandidaten, die für die MS-Pathogenese möglicherweise in Frage kämen, wie zum Beispiel Chlamydien oder auch bestimmte Vertreter aus der HHV-Familie wie das Cytomegalie-Virus (CMV), und deren Ausschluss geriet zusehends EBV ins Visier. Dafür spricht eine ganze Reihe von epidemiologischen Beobachtungen. So ergab eine Erhebung unter amerikanischen Rekruten, dass eine Seropositivität gegenüber dem EBV-Antigen EBNA-1 gegenüber einer Seronegativität mit einem 32-fachen MS-Risiko einhergeht (4).

Detaillierte Aufschlüsse über Zusammenhänge mit EBV bei pädiatrischer MS

Neben solchen retrospektiven Untersuchungen geben insbesondere auch Kohortenstudien bei pädiatrischer MS wertvolle Hinweise. So stellt sich bei Kindern mit einem ersten demyelinisierendem Ereignis die dringlich zu beantwortende Frage, ob und inwiefern sich die Symptomatik einem der Phänotypen erworbener demyelinisierender Erkrankungen (ADS = acquired demyelinating syndromes) zuordnen lassen. Bei einer ADS-Inzidenz in Höhe von 0,94/100.000, von der Prof. Dr. Brenda Banwell, Philadelphia, Pennsylvania (USA) aus einer 3-jährigen epidemiologischen Studie bei einer Fachtagung über pädiatrische MS in München 2009 berichtete, konnte nur bei 8% der Kinder im Alter von durchschnittlich 10,5 Jahren tatsächlich eine MS identifiziert werden. Demnach gab es nicht einen einzelnen Biomarker, der das Diagnoseproblem der pädiatrischen MS hätte lösen können. Zum Ziel führte aber das kombinierte Vorliegen von verschiedenen Parametern, wie Banwell später auf der 67. Jahrestagung der American Academy of Neurology (AAN) in Washington (USA) 2015 feststellen konnte. Als wegweisende Marker wurden der Vitamin-D-Status, virale Expositionen, MRT-Befunde sowie MS-Risiko-Allele und die klinisch sichtbare Krankheitsaktivität identifiziert. Aus einer kombinierten Berücksichtigung der 3 Parameter HLA-DRB1501-Status, EBV-Status und Vitamin D-Status ging schließlich eine Differenzierung hervor, aus dem sich ein Risiko von 57% errechnen ließ, nach einem ersten demyelinisierenden Ereignis eine MS zu entwickeln. Bei Kindern mit hohen Vitamin D-Spiegeln hingegen sowie negativen genetischen und viralen Befunden lag das MS-Risiko bei lediglich 5%.

MS-Risiko im Zusammenhang mit EBV durch infektiöse Mononukleose stark erhöht

Wie EBV mit der Genese der MS in Verbindung stehen könnte, zeigte Dr. Peter Sundström, Umea (Schweden), auf dem 26. Kongress des European Committee for Treatment and Research in Multiple Sclerosis (ECTRIMS) 2010 in Göteborg (Schweden) auf. Er berichtete von einer 2,3-fach erhöhten MS-Inzidenz bei Personen, die nach EBV-Infektion eine Mononukleose entwickelt hatten. Dies passt seinen Ausführungen zufolge mit einer 2-fach erhöhten Viruslast bei späteren MS-Patienten gegenüber neurologisch gesunden Personen zusammen. Für besonders aufschlussreich hielt er die eingehendere Befassung mit dem nukleären EBV-Antigen EBNA-1, wobei er wiederum ein spezielles Fragment (EBNA-1 385-420) ins Visier genommen hatte, das offensichtlich besonders stark mit dem MS-Risiko assoziiert ist. Bei hohen Antikörpertitern (IgG) gegen dieses Fragment steigt das MS-Risiko um das 10-fache. Da das Virus HLA-Klasse-II-Rezeptoren für die Infektion von B-Lymphozyten benutzt, lag es laut Sundström außerdem nahe, HLA-Merkmale genauer zu untersuchen. Dabei stellte sich heraus, dass Menschen, die HLA DRB1*15-positiv sind, bei hohen spezifischen IgG-Spiegeln ein gesteigertes MS-Risiko um sogar das 25-fache haben.
 
 

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MS-Risiko hängt entscheidend vom Alter bei EBV-Infektion ab

Der Zusammenhang von EBV-Infektionen und MS-Inzidenz gewinnt immer klarere Konturen, wenn vor allem auch die altersbezogene globale Epidemiologie genauer in Augenschein genommen wird. Eine infektiöse Mononukleose infolge einer EBV-Infektion ist in Entwicklungs- und Schwellenländern so gut wie unbekannt. Das liegt nach Ausführungen von Prof. Dr. Wolfgang Hammerschmidt, Leiter der Abteilung Genvektoren am Helmholtz Zentrum München, daran, dass dort praktisch die gesamte Bevölkerung im ersten und zweiten Lebensjahr mit EBV infiziert wird. Dabei findet die Übertragung des Virus typischerweise von den Müttern auf die Babys statt. Prominent ist hierbei das sogenannte Kissfeeding, also die Ernährung der Kinder mit vorgekautem Essen. Diese Kinder sind alle EBV-positiv und bleiben es auch ihr ganzes Leben lang. Das führt andererseits dazu, dass die Immunantwort dauerhaft damit beschäftigt ist, dieses Virus – wie auch andere Herpesviren – in Schach zu halten – und zwar lebenslang. Bezogen auf das Risiko, an MS zu erkranken, stellt die infektiöse Mononukleose einen zusätzlichen Risikofaktor dar, also zusätzlich zum Risiko, das sich aus der EBV-Infektion selbst ergibt, erläuterte Hammerschmidt. In Ländern mit verbesserten Hygienestandards führt dies dazu, dass etwa 50 bis 60% der Kinder bis zum Eintritt in die Pubertät nie mit EBV in Kontakt gekommen sind. Wenn die Jugendlichen und Heranwachsenden dann mit EBV infiziert werden – meist im Rahmen erster sexueller Kontakte – dann ist das Risiko, an infektiöser Mononukleose zu erkranken mit 30 bis 70% sehr hoch. Diese – späte – Infektion führt laut Hammerschmidt dazu, dass aus der Infektion eine Art Immunsyndrom entsteht, die eine Reihe von Dysregulationen von Immunantworten nach sich zieht, die in unterschiedliche klinische Auffälligkeiten münden können, zu denen nicht nur B-Zell-Lymphome, sondern auch Autoimmunerkrankungen wie SLE und eben auch die MS zählen.

Vitamin-D-Status stellt möglicherweise ein Artefakt in der MS-Epidemiologie dar

Vor diesem Hintergrund erscheinen auch epidemiologische Beobachtungen, die eine Sonnenlicht-Exposition und eine daraus abgeleitete Vitamin-D-Versorgung mit einem MS-Risiko assoziieren wollen, in gänzlich neuem Licht. Denn global gesehen zählen diejenigen Länder mit natürlich gegebenem guten Vitamin-D-Status zu den Gebieten mit unentwickelten hygienischen Verhältnissen und somit zu den Ländern mit wahrscheinlich maximaler EBV-Durchseuchung von frühester Kindheit an – ohne größere Risiken einer infektiösen Mononukleose bei Heranwachsenden. Insofern könnte die lange allgemein geteilte Vermutung, gute Vitamin-D-Versorgung schütze vor MS, lediglich einem Artefakt geschuldet sein, das sich letztendlich in der frühen, und somit komplikationsarmen EBV-Durchseuchung schon bei den Kleinsten auflöst. Dazu passt auch eine Auswertung jährlicher MS-Inzidenzraten auf Kreta, die Theodora Panou, Heraklion (Griechenland), auf der 62. AAN-Jahrestagung in Toronto, Ontario (Kanada), 2010 präsentierte. Der Vergleich der Zeiträume zwischen den Jahren 1980 bis 1984 mit den Jahren 2006 bis 2008 zeigte einen deutlichen Anstieg der Inzidenzraten von 1,51 auf 5,28/10.000. Panou brachte diese Entwicklung mit der zunehmenden Verstädterung auf der griechischen Insel in Verbindung, zumal die MS-Häufigkeit in ländlichen Gebieten kaum angestiegen war. Und da eine solche Verstädterung mit einer Modernisierung hygienischer Verhältnisse einhergeht, erscheint auch eine tendenzielle Verschiebung der EBV-Durchseuchung vom Kleinkindes- hin zum Jugendalter wahrscheinlich.

Ineffektive Kontrolle EBV-induzierter Autoimmunität führt zu 260-fachem MS-Risiko

Unterstützt durch solche epidemiologischen Auffälligkeiten verdichten sich die Hinweise darauf, dass die Entstehung der MS in Zusammenhang mit der genetischen Disposition zu sehen ist, mit welchen Instrumentarien der Infizierte immunologisch reagiert. Und eine vor kurzem veröffentlichte Studie brachte den genaueren Zusammenhang zwischen EBV-Infektion, Autoimmunität, genetischer Disposition und MS als darauf aufbauende manifeste Autoimmunerkrankung zutage. So ließen die Daten den Schluss zu, dass eine ineffektive Kontrolle EBV-induzierter Autoimmunität zu einer Erhöhung des MS-Risikos um den Faktor 260 führt (5).
 
 

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Impfung gegen EBV als Ansatz zur MS-Primärprävention

Angesichts dieser Beobachtungen erscheint eine Impfung gegen EBV ein vielversprechender Ansatz zu sein, die Entstehung einer MS schon im Keime zu ersticken. Derzeit befinden sich deshalb einige Kandidaten für eine EBV-Vakzine in klinischer Entwicklung, um insbesondere dem immunologisch wegbereitenden Krankheitsbild der infektiösen Mononukleose wirksam begegnen zu können. Trotz jahrelanger Forschung steckt die Entwicklung solcher Impfstoffe zurzeit aber noch in den Kinderschuhen. Da das Genmaterial in EBV-infizierten Wirtszellen für etwa 80 virale Proteine codiert, ist das immunologische Haupttarget laut Hammerschmidt bis heute noch unbekannt. Entsprechend müsse man bei der viralen T-Zell-Antwort davon ausgehen, dass diese sehr breit gefächert und gegen sehr viele verschiedene Epitope gerichtet ist. Von daher basiere die mittlerweile weit fortgeschrittene Impfstoffentwicklung des Helmholtz Zentrums München auf dem ganzen Virus und bestehe somit in einem Cocktail aus Virus-like-Particles, die elektronenmikroskopisch und morphologisch nicht unterscheidbar sind vom Original. Und wenn es tatsächlich zu einem EBV-Impfstoff kommen sollte, stelle sich immer noch die Frage, wie Personen frühzeitig identifiziert werden können, bei denen eine EBV-induzierte infektiöse Mononukleose mit erhöhter Wahrscheinlichkeit eintreten könnte und deshalb von einer Impfung überproportional profitieren würden.

Liegt der Schlüssel zur Erklärung der MS-Krankheitsprogression ebenfalls in der EBV-Hypothese?

Die Hypothese der viralen Genese der MS ist nicht nur in epidemiologischen Auffälligkeiten erhöhter MS-Inzidenz fündig geworden, sondern vor allem auch durch die jüngsten Therapieerfolge mit modernen MS-Therapeutika. So hat sich unabhängig von und parallel zu den beeindruckenden Behandlungsergebnissen durch B-Zell-Depletion die Erkenntnis durchgesetzt, dass EBV insbesondere B-Zellen infiziert und in diesen Immunzellen ein privilegiertes Refugium vor spezifischen Attacken anderer immunkompetenter Zellen findet.

Insofern kann in der EBV-Hypothese durchaus auch die Rationale für die Wirksamkeit der B-Zell-Depletion bei MS liegen. Nähere Aufschlüsse hierzu sind wahrscheinlich in einer genaueren Charakterisierung der B-Zell-Subpopulationen zu finden, zu denen insbesondere B-Memory-Zellen und Plasmazellen zählen. Hier stellt sich vor allem die grundsätzliche Frage, in welchem Ausmaß eine B-Zell-Depletion oder -Reduktion in der Lage sein kann, eine Immunrekonstitution herbeizuführen, und wie lange eine solche Umprogrammierung der Autoimmunität infolge Austausch autoreaktiver gegen naive B-Zellen anhalten kann. Eine besondere Bedeutung dürften ferner die Kompartimente im menschlichen Organismus aufweisen, in denen sich EBV-infizierte B-Zellen bevorzugt aufhalten und in denen es immer wieder zu einer Virus-Reaktivierung kommt, was vermutlich entscheidend zum chronisch progredienten Verlauf der MS beiträgt, der zunehmend durch subklinisch schwelenden Krankheitsfortschritt auch ohne Schübe (PIRA) imponiert.

Zur besseren Lesbarkeit wird in diesem Artikel das generische Maskulinum verwendet. Die verwendeten Personenbezeichnungen beziehen sich – sofern nicht anders kenntlich gemacht – auf alle Geschlechter.
Literatur:

(1) Nexø BA eet al. (2013): Treatment of HIV and risk of multiple sclerosis. Epidemiology, DOI: https://doi.org/10.1097/EDE.0b013e318281e48a
(2) Gold et al. (2014): HIV and lower risk of multiple sclerosis: beginning to unravel a mystery using a record-linked database study. Journal of Neurology, Neurosurgery, and Psychiatry, DOI: 10.1136/jnnp-2014-307932.
(3) Obert HJ, Pöhlau D. Beta-Interferon, 3. Aufl., Springer-Verlag Berlin; Heidelberg; New York; 2000
(4) Bjornevik K et al. (2022): Longitudinal analysis reveals high prevalence of Epstein-Barr virus associated with multiple sclerosis. Science, DOI: 10.1126/science.abj8222
(5) Vietzen H et al. (2023): Ineffective control of Epstein-Barr-virus-induced autoimmunity increases the risk for multiple sclerosis. Cell, DOI: 10.1016/j.cell.2023.11.015.


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