Immer mehr ältere Menschen werden mit medizinischem Cannabis behandelt
Laut Zahlen des PraxisRegister Schmerz liegt der Anteil von Menschen über 65 Jahre bei Behandlungen mit medizinischem Cannabis mittlerweile bei 26,9% (1). Da derzeit für etwa 22% der Patient:innen im gesamten Register medizinisches Cannabis dokumentiert ist, haben sich
Cannabinoide zu einem wichtigen Faktor nicht nur in der geriatrischen Schmerztherapie entwickelt. Vor dem Hintergrund der demographischen Entwicklung wird die Bedeutung von medizinischem Cannabis bei der Behandlung chronischer Schmerzen zukünftig einen noch höheren Stellenwert einnehmen.
Cannabinoide ermöglichen mehr Teilhabe am Alltag
Für D Dr. med. Michael A. Überall stellt die hohe Alltagstauglichkeit der Therapie einen großen Vorteil dar: „Cannabinoide ermöglichen eine bessere Teilhabe am Alltag, und die geriatrischen Patientinnen und Patienten fühlen sich insgesamt wohler.“ Besonders für dieses Kollektiv bedeute die Rückkehr aus schmerzbedingter Isolation eine Zunahme der Lebensqualität (2). Behandelnde sollten dabei besonders die pharmakokinetischen Veränderungen im Alter beachten, sowie die häufig vorliegende Polypharmazie. Seine Empfehlung: Auf der Webseite der Pennsylvania State University lässt sich die Kombination von Cannabinoiden mit anderen Wirkstoffen einfach überprüfen (
https://cann-dir.psu.edu/).
Langsame Therapieeinleitung mit CBD-dominanten Arzneimitteln
Aus Sicht von Dr. Überall seien Nebenwirkungen häufig vor allem ein Dosisproblem und können gerade in der Dosisfindung auftreten. Er empfahl eine langsame Therapieeinleitung von Cannabidiol (CBD)-dominaten Cannabisarzneimitteln gemäß dem Motto „start low, go slow“. Seiner Erfahrung nach gibt es bei zugelassenen Indikationen derzeit keine Hinweise auf eine Desensibilisierung. Zuletzt
berichtete erhöhte Risiken für Herzrhythmusstörungen seien statistisch nachgewiesen, aber aufgrund ihrer sehr geringen Häufigkeit wenig relevant (3).
PRISCUS2.0: Vorteile von Cannabinoiden im Vergleich mit anderen Substanzklassen
Daten aus der Anwendungsbeobachtung PRISCUS2.0 mit den Erfahrungen von 1.283 Ärzt:innen zeigen Vorteile von medizinischem Cannabis gegenüber anderen Schmerztherapeutika im geriatrischen Einsatz (4). Die Behandelnden sahen Cannabinoide bei diesem Patientenkollektiv gut geeignet und noch vor den potenten Opioidanalgetika, die eine wesentlich höhere Abbruchrate besitzen. Dr. Überall schloss in dieser Betrachtung neben der Wirkstärke bezüglich der Schmerzsymptomatik auch die positiven Effekte auf weitere Begleitparameter wie Angst und Stress ein, die bei klassischen Analgetika häufig erst durch die Kombination mit weiteren Therapeutika adressiert würden. In den pleiotropen Effekten von Cannabinoiden liege ein starkes Argument für die Verschreibung bei älteren Patient:innen. Einer Studie mit Teilnehmenden ab 50 Jahren zufolge konnten etwa 40% nach 6 Monaten Cannabinoid-Therapie ihre Begleitmedikation an Analgetika, Antidepressiva, Antiepileptika und Muskelrelaxanzien deutlich reduzieren (5).
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Erschienen am 31.10.2024 • Ziconotid erweitert das Repertoire zur Behandlung von schweren Tumorschmerzen. Mehr lesen Sie hier!
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Cannabisblüten werden selten eingesetzt
Innerhalb der Substanzklasse präferieren Ärzt:innen bei älteren Patient:innen CBD-dominante Extrakte vor Dronabinol und Tetrahydrocannabinol (THC)-dominanten bzw. CBD-THC-balancierten Extrakten (4). Cannabisblüten werden dagegen bei dieser Patientengruppe weitaus seltener eingesetzt. Nach Ansicht von Dr. Überall sei die bevorzugte Wahl von CBD-dominanten Extrakten vor allem auf die gute Verträglichkeit des Wirkstoffs CBD und auf die synergistischen Effekte von THC & CBD zurückzuführen.
Cannabinoide bei geriatrischen neurologischen Indikationen
Dr. Thomas Vaterrodt, Saarbrücken, wies in seinem Vortrag auf das Potenzial von medizinischem Cannabis in der Geriatrie hin. Er sieht die Vorteile dabei weniger in der Kausaltherapie eines Krankheitsbildes, sondern vielmehr in der Behandlung von Symptomkonstellationen: „Gerade bei einer ausgeprägten Gebrechlichkeit seien die Begleiterscheinungen Schmerz, Gewichtsverlust, (In-)aktivität, Depression, kognitiver Abbau und Insomnie durch medizinisches Cannabis gut zu adressieren.“ Das von ihm präsentierte 7A-Wirkungsprofil von THC-CBD-Kombinationen (antinozizeptiv, appetitsteigernd, antiagitativ, antidepressiv, anxiolytisch, antiinflammatorisch und antiemetisch) lasse sich aus seiner Erfahrung in verschiedene Behandlungsstrategien einbauen, darunter diabetische Neuropathien, Trigeminus-Neuralgien, Arthritis, Schlafstörungen, Depressionen oder dem hyperaktiven Delir, wie er bei der Alzheimer-Demenz auftreten kann.
Genehmigungsvorbehalt entfällt für viele Fachärzt:innen
Parallel zum Deutschen Schmerzkongress 2024 trat eine Regelung in Kraft, mit der der Zugang zu medizinischem Cannabis zukünftig erleichtert wird. Gemäß dem G-BA-Beschluss entfällt der Genehmigungsvorbehalt zur GKV-Kostenübernahme von medizinischem Cannabis für 16 Facharzt- und Schwerpunktbezeichnungen sowie 5 Zusatzbezeichnungen – darunter unter anderem für Fachärztinnen/Fachärzte für Allgemeinmedizin, Anästhesiologie, Innere Medizin, Neurologie oder Psychiatrie und Psychotherapie sowie den Zusatzbezeichnungen Geriatrie, Schlafmedizin, Spezielle Schmerztherapie, Palliativmedizin und Medikamentöse Tumortherapie (7). Nach Ansicht des G-BA können die ausgewählten Facharztgruppen die Notwendigkeit einer Cannabisverordnung eigenständig beurteilen und sind damit von der Antragspflicht entbunden. Dennoch empfiehlt es sich, für jede Neueinstellung die nötigen Angaben für einen Antrag auf Kostenübernahme vorzubereiten und vorsorglich in der Patientenakte abzulegen. Für andere Facharztgruppen, die im Beschluss nicht aufgezählt wurden, gilt nach wie vor der Genehmigungsvorbehalt.