Gendermedizin ist eine Form der Präzisionsmedizin
Wie gelangen moderne Lernziele, wie die GSM+ in den neuen Lernzielkatalog (vgl. Kasten: NKLM 2.0)? Die Universitätsmedizin Mainz hat mit dem „
Mainzer Fachsymposium zur Lehre von geschlechtersensibler Medizin am 23. und 24. Februar 2023 einen Startschuss abgefeuert.
Gendermedizin* ist eine Form der Präzisionsmedizin mit hoher Bedeutung, betont Univ.-Prof. Dr. Heinz Schmidberger, Prodekan für Studium und Lehre an der Universität Mainz gleich zu Beginn des Symposiums.
Geschlecht und Umwelt bedeutende Faktoren bei Gesundheit und Krankheit
In der Keynote-Lecture betonte die internationale Expertin für Sex & Gender-Medicine
*, Prof. Dr. Cara Tannenbaum, Universität Montreal, Kanada, dass 13,5 bzw. 11,6% der Variabilität von Gesundheit oder Krankheit wahrscheinlich auf irgendeinen Aspekt von Geschlecht und Umwelt zurückgeführt werden können (1). Anders ausgedrückt: 1 von 8 Erkrankungen wird in Zukunft anders behandelt werden – das ist ein großer Anteil.
Gendermedizin wird Teil des Medizinstudiums
Diese und andere Erkenntnisse werden in dem neuen NKLM (jetzige Fassung NKLM 2.0) berücksichtigt und umgesetzt. Mit Inkrafttreten der neuen Ärztlichen Approbationsordnung (ÄApprO), voraussichtlich ab 2025, wird der NKLM verbindlicher Teil der ÄApprO und bildet das Kerncurriculum (80% Lehrinhalte) aller Medizinischen Fakultäten in Deutschland ab. Im Referentenentwurf des Bundesministeriums für Gesundheit zur Verordnung der Neuregelung der ärztlichen Ausbildung (2) wird auf Seite 107 (in Anlage 3) die „Gendermedizin“ in der Liste der Klinischen Fächer aufgeführt. Weiter wird auf Seite 231 (zu Anlage 3) erläutert: „Um Geschlechterwissen und Geschlechtersensibilität im Medizinstudium zu stärken, wird das Fach Gendermedizin hinzugefügt.“
Neue Lernziele im Medizinstudium: Geschlecht und Diversität berücksichtigen
Damit ist aber nicht alles gesagt, meint PD Dr. Ute Seeland, Charité Berlin und Vorsitzende der
Deutschen Gesellschaft für Geschlechtsspezifische Medizin. Wie und was genau gelehrt wird, ist im NKLM noch genauer zu definieren. Bisher gibt es 88 Lernziele zur geschlechtersensiblen Medizin mit Diversitätsaspekten (GSM+), die noch erweitert werden müssen , sagt Seeland. Gleichzeitig müssen die Lehrformate in Präsenz, Selbstbestimmtes Lernen und Online-Kollaboratives Lernen angepasst und gegebenenfalls getestet werden.
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Erschienen am 01.06.2022 • Warum ist Gendermedizin wichtig? Und was ist eigentlich Gendermedizin? Die Antwort gibt PD Dr. med. Ute Seeland. Lesen Sie das Interview!
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Grundlegende Lernziele der GSM+
Wenn es um die Lernziele geht, hat Seeland klare Vorstellungen. Am Ende einer Lerneinheit sollten die Studierenden
- ein grundlegendes Wissen über geschlechterspezifische Aspekte bei den häufigsten Erkrankungen der gewählten Disziplin erlangt haben,
- die Probleme und Wissenslücken innerhalb der einzelnen Disziplinen erkennen und erste Lösungsansätze finden,
- Modelle zu pathophysiologischen Zusammenhängen hinterfragen und in die Kommunikation mit Grundlagenwissenschaftler:innen treten,
- Ideen entwickeln, die helfen, Genderaspekte in den klinischen Alltag zu integrieren.
GSM+ aus Perspektive der Medizin-Studierenden
Die Studierenden sind wichtige Akteur:innen bei der Entwicklung des Curriculums. In ihrem Impulsvortrag zeigten Charlotte Mohr (10. Semester Medizin in Vertretung von Rebecca Krüger) und Anna Böckmann (6. Semester Medizin), Verbesserungsbedarf in der Lehre auf. Beide sind Mitglieder der Hochschulgruppe „Kritische Medizin Mainz“, die sich mit dem Ist-Zustand im Medizinstudium und in der Medizin auseinandersetzt. Über ihren
Instagram-Kanal bekommt die Gruppe viel Input, was anderen Studierenden wichtig ist. Neben strukturellen und ökonomischen Problemen, die von hohem Interesse sind, kommen an zweiter und dritter Stelle die Themen Frauengesundheit und Gendermedizin
*. Auch sexuelle und geschlechtliche Identität stehen weit oben auf der Liste.
Geschlechtssensible Medizin bislang nur punktuell gelehrt
Betrachtet man das Lehrangebot zu gendersensiblen Inhalten im Medizinstudium in Mainz, fällt die Bilanz nicht so gut aus. Es gibt ein Wahlpflichtfach „Transidentität“ in der Vorklinik mit PD Dr. med. Livia Prüll, weiter stehen 3 Vorlesungen '„Geschlechtersensible Medizin“ (Innere Medizin) von Gastdozentin PD Dr. med. Ute Seeland im Lehrverzeichnis sowie eine Vorlesung „Geschlechtsinkongruenz“ (Psychiatrie) mit zugangsbeschränkter Teilnahme. Bei all diesen Veranstaltungen übersteigt die Nachfrage das Platzangebot um ein Vielfaches. Das Ziel der kritmed_mainz sei, dass Lehrende befähigt werden, den Studierenden das entsprechende und aktuelle Wissen vermitteln zu können. Denn diese wollen später im Berufsleben eine moderne und korrekte Medizin anwenden können. Zusammengefasst seien Bedarf und Nachfrage sehr viel größer als das momentane Angebot, sagen Böckmann und Mohr. „Dieses Symposium und die Tatsache, dass wir hier stehen, zeigt, dass die Tür offen ist hier in Mainz für diese Themen.“
Behandlung von Trans*-Menschen wichtiger Teil der Medizin
In den Workshops wurden Ansätze erarbeitet, wie eine geschlechtersensible Lehre gut im humanmedizinischen Curriculum abgebildet werden kann.
In Workshop 1‚ „Transidentität und Diversität in der Lehre“ wurde erarbeitet, dass die Grundeinstellung gegenüber Trans
*-Menschen ein absolut wichtiger Aspekt sei, fasste PD Dr. Livia Prüll, Mainz, zusammen. Daher sollte den Studierenden der Raum gegeben werden, sich mit verschiedenen Patient:innen-Identitäten auseinanderzusetzen – dazu gehört auch eine Anleitung zur Selbstreflexion.
Medizinstudierende sollen Geschlecht, Kultur und Kommunikation kritisch reflektieren
Im zweiten Workshop ging es um konkrete Lernziele in der GSM+. Wie Ute Seeland erläuterte, sind das eigene Rollenverständnis, die ärztliche Haltung und Wertschätzung wichtig. Im Workshop wurden Barrieren reflektiert, die es erschweren, geschlechtersensible Sprache und soziokulturellen Einflussfaktoren neben den biologischen Unterschieden in die Lehrinhalte einzubringen. Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Kommunikation, die bereits relativ früh im Studium und dann immer wieder unterrichtet werden muss.
Geschlecht, Klima und Transidentität als Teil eines modernen Medizinstudiums
Die Lernzielkatalogentwicklung ist ein sehr sinnvoller, aber auch sehr langwieriger Prozess. Da jedoch die GSM+ und andere Aspekte wie Transidentität oder Klima aktuelle und moderne Themen sind und daher in eine zukunftsorientierte Medizinausbildung gehören, sollten diese bereits jetzt in die Lehre integriert werden. Hier kann der Fakt genutzt werden, dass der NKLM als Kerncurriculum 80% der Lehrinhalte bestimmt. Es bleiben 20% Freiheit für die Lehre, die jede Fakultät bereits jetzt mit modernen Lehrinhalten wie der GSM+ füllen kann. Wir sollten anfangen, die genannten Wünsche zu berücksichtigen und GSM+ in die Lehre zu implementieren, sagte Prodekan Dr. Heinz Schmidtberger in seinem Schlusswort.
Nationaler Kompetenzbasierter Lernzielkatalog Medizin/ Zahnmedizin (NKLM/NKLZ) – Aufbau und Struktur
Der NKLM ist ein Konsensprozess, der beschreibt wie Studierende ausgebildet werden. Wichtig für die verschiedenen Fakultäten ist dabei, dass der NKLM als Kerncurriculum nach der neuen Approbationsordnung 80% der Ausbildung beinhaltet. 20% sollen bzw. können die Fakultäten zur Ausbildung im Curriculum beitragen.
Den NKLZ gibt es momentan noch in der ersten Fassung.
Der NKLM 2.0 liegt inzwischen in der 2. Fassung digital vor und umfasst 8 Kapitel. Dabei enthalten Kapitel V bis VIII die definitiven Lernziele.
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*Die englischsprachige Bezeichnung gendermedicine oder sex-and-gender medicine wird auf deutsch häufig verkürzt und verfälscht als Gendermedizin bezeichnet. Um sowohl das biologische als auch das soziokulturelle Geschlecht und weitere Diversitätsfaktoren korrekt zu berücksichtigen, spricht sich die 1. Vorsitzende der DGesGM, PD Dr. Ute Seeland für eine einheitliche Benennung aus: „Geschlechtersensible Medizin mit Diversitätsfaktoren, die durch das Akronym GSM+ abgekürzt werden kann.
Quelle: Symposium „Alle Patient-innen sind gleich? Mainzer Fachsymposium zur Lehre von geschlechtersensibler Medizin, 23./24.02. 2023, Mainz;