Zielspezifische Heterochromatin-Regulation bisher unklar
Mutationen in Genen, die für Heterochromatin-Regulatoren kodieren, stehen häufig in Zusammenhang mit
neurologischen Entwicklungsstörungen. Es wird angenommen, dass Heterochromatin die Identität von Nervenzellen stabilisiert in dem es die transkriptionelle Repression von abstammungsunspezifischen Genen erzwingt. Die meisten Heterochromatin-Regulatoren werden jedoch in allen Zellarten exprimiert und haben keine Bindungsspezifizität für bestimmte DNA-Sequenzen. Daher ist nach wie vor unklar, wie diese Genrepression zielspezifisch gesteuert wird, und wie Mutationen in Heterochromatin-Regulatoren zu neuronalen Defekten beitragen.
Maus-Zinkfingerprotein ZFP462 interagiert mit dem Heterochromatin-Regulatoren-Komplex G9A/GLP
Die Forscher:innen haben nun den molekularen Mechanismus aufgedeckt, der den Heterochromatin-Regulatoren-Komplex G9A/GLP an die DNA bindet, um abstammungsunspezifische Gene während der frühen
Neurogenese zu unterdrücken. Sie fanden heraus, dass das bisher nicht charakterisierte Maus-Zinkfingerprotein ZFP462 direkt mit G9A/GLP interagiert. Auf diese Weise baut ZFP462 repressives Heterochromatin an Steuerelementen von Mesoderm- und Endoderm-spezifischen Genen in embryonalen Stammzellen und neuralen Vorläuferzellen der Maus auf. In mutierten Zfp462-Zellen führte die fehlende Repression von nicht-neuronalen Steuerelementen zu deren abweichender Expression. Dies wiederum führte zu einer Fehlspezifizierung neuronaler Zellen hin zu meso- und endodermalen Zell-Abstammungen.
Mutation im menschlichen Zinkfingerprotein verursacht das Weiss-Kruszka-Syndrom
Beim Menschen verursacht eine Mutation in einem Allel des ZNF462-Gens, die menschliche Version des Maus-Gens Zfp462, eine seltene genetische Störung, die als Weiss-Kruszka-Syndrom bekannt ist. Das Weiss-Kruszka-Syndrom geht mit einem hohen Risiko für Autismus-Spektrum-Störungen einher. Auf Grundlage der Ergebnisse in Mäusezellen ist es wahrscheinlich, dass die Neuropathologie bei Personen, die unter dem Weiss-Kruszka-Syndrom leiden, durch Defekte in der neuronalen Zellspezifikation verursacht wird.
Wichtige Rolle von ZFP462 in der Zellabstammungsspezifikationen im frühen Embryo
„Wir konnten zeigen, dass ZFP462 eine Schlüsselrolle bei der Sicherung der neuralen Abstammungsspezifikation in Zellen früher Mäuseembryonen spielt“, sagt der Erst- und mit-korrespondierende Autor Ramesh Yelagandula, der dieses Forschungsprojekt während seiner Postdoc-Zeit in der Forschungsgruppe des ehemaligen IMBA-Gruppenleiters Oliver Bell begonnen hat. In ihrer Studie zeigten Yelagandula, Bell und ihr Team, dass die durch ZFP462 vermittelte Rekrutierung von G9A/GLP die Bildung von Heterochromatin an nicht-neuralen Steuerelementen in die Wege leitet. Heterochromatin schränkt die Bindung aktivierender Transkriptionsfaktoren ein und verhindert die Expression von Genen, die an der Spezifikation für mesodermale und endodermale Zell-Abstammungen beteiligt sind. Daher ist ZFP462 für die Förderung der Ektoderm-Identität unerlässlich, damit sich neuronale Zellen richtig entwickeln können.
Verlust der Zellidentität neuronaler Zellen verursacht Entwicklungsstörungen
„Die 3 Zell-Abstammungen, die zu Ektoderm, Mesoderm und Endoderm führen, entstehen sehr früh während der
Embryonalentwicklung“, sagt der letzte und mit-korrespondierende Autor Bell. Ektodermale Zellen differenzieren sich weiter zu neuronalen Zellen und Geweben wie Nerven, Gehirn und Rückenmark. „Sobald die verschiedenen Zell-Abstammungen festgelegt sind, ist die Aufrechterhaltung ihrer Identität entscheidend für die Funktion bestimmter Zellen und Gewebe“, sagt Yelagandula. Der Verlust der Zellidentität verursacht Entwicklungsstörungen und kann zu Krankheiten führen. Daher sind Heterochromatin-Regulatoren zur Aufrechterhaltung der Zellabstammungsspezifikation und der Zellidentität erforderlich.
Weiss-Kruszka-Syndrom entsteht durch abweichende Aktivierung von zellabstammungsunspezifischen Genen
ZNF462, das am Weiss-Kruszka-Syndrom beteiligte Gen, ist in Wirbeltieren hoch konserviert. Die Charakterisierung des Mechanismus des Maus-Orthologs Zfp462 wirft ein Licht auf den möglichen molekularen Mechanismus, der dieser seltenen menschlichen Neuroentwicklungsstörung zugrunde liegt. „Unsere Daten deuten darauf hin, dass das Weiss-Kruszka-Syndrom durch eine abweichende Aktivierung von zellabstammungsunspezifischen Genen in der neuronalen Linie während der frühen Embryogenese entstehen könnte“, sagt Bell.
Forschung deutet auf mögliche zukünftige Therapien des Weiss-Kruszka-Syndroms hin
Die Forscher:innen erwägen mögliche Anwendungen für die Behandlung betroffener Patient:innen. Patient:innen, bei denen das Weiss-Kruszka-Syndrom diagnostiziert wird, tragen nur ein mutiertes Allel von ZNF462, das ein frühes Stopcodon enthält, während das 2. Allel funktionsfähig ist. Da nur ein gesundes Allel vorhanden ist, ist die Menge des funktionellen Proteins reduziert. „Wir untersuchen derzeit die Möglichkeit ob die Expression eines verkürzten, möglicherweise fehlgefalteten Proteins vom mutierten Allel einen pathologischen Beitrag bei der Genregulation zur Folge hat. Sollte dies der Fall sein, könnten wir durch Neutralisierung des abgeschnittenen Proteins eingreifen und die Symptome der Patient:innen lindern“, berichtet Yelagandula.
(1) Yelagandula R. et al., „ZFP462 safeguards neural lineage specification by targeting G9A/GLP- mediated heterochromatin to silence enhancers", Nature Cell Biology, 2023. DOI: 10.1038/s41556-022-01051-2