Multiplex-Netzwerk analysiert systematisch die Ursache für seltene Erkrankungen
Im Gegensatz zu häufigen Krankheiten, die in der Regel durch ein komplexes Zusammenspiel mehrerer genetischer und umweltbedingter Faktoren gekennzeichnet sind, können
seltene Krankheiten oft auf ein einziges defektes Gen zurückgeführt werden. Die gezielte Entschlüsselung und Analyse eines Gendefekts und seiner phänotypischen Folgen liefert daher wichtige Informationen für das Verständnis von zugrundeliegenden Mechanismen im Körper und hilft bei der Wahl gezielter Behandlungsstrategien. Die individuelle Suche nach der Krankheitsursache ist jedoch meist langwierig und kostenintensiv. Einen neuen, systematischen Ansatz zur Erforschung seltener, noch nicht charakterisierter Erkrankungen mittels eines sogenannten Multiplex-Netzwerkes präsentiert nun die Forschungsgruppe von Netzwerkwissenschaftler Jörg Menche am CeMM sowie den Max Perutz Labs in ihrer neuesten Studie, die heute in dem Fachjournal Nature Communications veröffentlicht wurde.
Netzwerkanalysen haben 3-mal höhere Wahrscheinlichkeit, ursächlichen Gendefekt zu identifizieren
Menches Forschungsgruppe widmet sich bereits seit mehreren Jahren dem besseren Verständnis von genetischen Interaktionen mithilfe molekularer Netzwerkanalysen, um die Diagnose und Therapie seltener Erkrankungen zu verbessern. Für ihre aktuelle Studie baute Erstautor Pisanu Buphamalai, CeMM PhD Student der Forschungsgruppe von Menche, ein mehrschichtiges Netzwerk, das über 20 Millionen Genbeziehungen mit Informationen über die Protein-Interaktionen bis hin zu phänotypischen Ähnlichkeiten abbildet. Dafür integrierte der Wissenschaftler einen umfassenden Datensatz mit über 3.700 seltenen Krankheiten mit bekannter genetischer Grundlage. Studienleiter Menche erklärt: „Das Multiplex-Netzwerk integriert verschiedene Netzwerkschichten, die unterschiedliche Ebenen der biologischen Organisation unseres Körpers abbilden, vom Genom über das Transkriptom, Proteom bis hin zum Phänotyp. Durch die Abbildung der Protein-Interaktionen und Mechanismen können wir auch jene Proteine besser charakterisieren, über deren Rolle bei seltenen Erkrankungen bisher wenig bekannt war, und so Gendefekten rascher auf die Spur kommen.“ Pisanu Buphamalai ergänzt: „Wir orientieren uns an den Wechselwirkungen zwischen den Proteinen - sowohl auf physikalischer als auch auf funktioneller Ebene. So können Rückschlüsse auf das defekte Gen sowie damit verbundene Auswirkungen getroffen werden. Unser Multiplex-Netzwerk-Ansatz erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass wir die entscheidende Gen-Abweichung finden, um ein Dreifaches im Vergleich zu getrennt betrachteten Netzwerken.“
Fortschritt für die Netzwerkmedizin: Genauere Analyse, bessere Prognose
Das Multiplex-Netzwerk ermöglicht durch seinen modularen Aufbau einerseits, die Auswirkungen einer bestimmten seltenen Krankheit auf eine bestimmte Ebene der biologischen Organisation zu quantifizieren. Das bedeutet festzustellen, ob bestimmte Zellen, Gewebeformen, Organe etc. besonders durch einen Gendefekt beeinflusst sind. Andererseits lässt sich auch die Bedeutung von bestimmten molekularen Prozessen für eine Erkrankung messen. „Gerade durch seine Vielschichtigkeit, das Verknüpfen der molekularen Abläufe und Prozesse, ist unser Multiplex-Netzwerk deutlich leistungsstärker und erfolgreiche als einzelne Netzwerke. Auch Prognosen über mögliche Folgeerscheinungen des Gendefekts lassen sich damit besser treffen“, so Menche. Auf ihre Funktionalität erfolgreich überprüft wurde das Netzwerk in Zusammenarbeit mit Vanja Nagy, Principal Investigator am Ludwig Boltzmann Institute for Rare and Undiagnosed Diseases sowie CeMM Adjunct Principal Investigator, anhand der Daten von PatientInnen mit neurologischen Erkrankungen, deren zugrundeliegender Gendefekt bereits bekannt war. „Unsere Studie zeigt, wie ein riesiger Datensatz im Rahmen der Netzwerkmedizin genutzt werden kann, um mehrere praktische und konzeptionelle Herausforderungen in der Erforschung seltener Krankheiten zu bewältigen und so die Diagnose und Behandlung im Sinne der PatientInnen zu verbessern“, so Menche.