Der „World Brain Day“, den die internationale Neurologiegesellschaft jedes Jahr ausruft, widmet sich in diesem Jahr dem Thema Migräne. Am 22. Juli soll dafür sensibilisiert werden, dass Migräne eine neurologische Erkrankung ist, die viele Menschen betrifft und ihr Leben stark beeinträchtigt. Dennoch wird Migräne oft nicht richtig erkannt und adäquat behandelt. Ziel der Initiatoren des Aktionstages ist es, hier Abhilfe zu schaffen und mehr Menschen für diese Erkrankung und die Möglichkeiten der Behandlung und Prävention zu sensibilisieren.
Prof. Dr. Hans-Christoph Diener, Pressesprecher der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN), sieht Handlungsbedarf, zumal die Prävalenz der Erkrankung steigt. „Besonders besorgniserregend ist die Zunahme der Migränehäufigkeit bei jüngeren Menschen, aber auch in allen anderen Altersgruppen hat sich die Zahl der Betroffenen leicht erhöht“, erklärt der Experte. Er bezieht sich auf den Arztreport 2017 der Barmer Krankenkasse (1), demzufolge im Zeitraum von 2005 bis 2015 der Anteil der 18- bis 27-Jährigen mit Kopfschmerzdiagnosen, darunter auch Migräne, um 42% gestiegen war.
„Da eine Migräne die Lebensqualität drastisch beinträchtigen kann, ist es wichtig, dass alle Betroffenen eine leitliniengerechte Therapie erhalten. Die Deutsche Gesellschaft für Neurologie hat 2018 gemeinsam mit der Deutschen Migräne- und Kopfschmerzgesellschaft (DMKG) die Migräneleitlinie aktualisiert (2). Dafür ist eine neurologische Mitbetreuung des Patienten ratsam.“ Er hebt hervor, dass der Besuch beim Spezialisten keinesfalls zur Verschreibung von Schmerzmedikamenten im Gießkannenprinzip führe – „im Gegenteil, viele Patientinnen und Patienten haben sich seit Jahren selbst therapiert und stellen sich mit Kopfschmerzen vor, die aus einem Kopfschmerzmedikamentenübergebrauch resultieren. Mittlerweile sind auch Triptane, spezielle Migränemedikamente, freiverkäuflich in Apotheken erhältlich. Wenn diese Medikamente über ein Vierteljahr mehr als 10 Mal im Monat eingenommen werden, ist von einem solchen Medikamentenübergebrauch-Kopfschmerz auszugehen.“ Wichtig sei dann zunächst die Schmerzmittelentwöhnung, die aber nur mit einer guten Prophylaxestrategie gegen Kopfschmerzattacken möglich ist. „Manche Betroffene schaffen das allein durch eine Lebensstiländerung. Sie wissen sehr genau, was bei ihnen Migräneattacken auslöst, und einige können diesen Triggern aus dem Weg gehen. Bei vielen ist aber eine medikamentöse Prophylaxe erforderlich und die kann nur eine Ärztin oder ein Arzt verschreiben.“ Sie erfolgt z.B. mit Betablockern oder Kalziumantagonisten – eigentlich Substanzen, die bei Bluthochdruck eingesetzt werden – oder auch mit so genannten Antikonvulsiva, Medikamenten gegen Krampfanfälle. In besonders schweren Fällen können auch Botox oder spezielle Antikörpertherapien eingesetzt werden. Der Neurologe verschreibt eine individualisierte, auf den Betroffenen zugeschnittene Therapie, angepasst an die Krankheitsstärke, das Alter, Begleiterkrankungen und Lebensumstände. „Wichtig ist aber, dass eine medikamentöse Prophylaxetherapie immer auch durch nichtmedikamentöse Maßnahmen begleitet wird. Wir raten den Patienten zu regelmäßigem Ausdauersport und dem Erlernen von Entspannungstechniken – und Stressbewältigungsstrategie. Alles hat nachweislich positive Effekte auf die Häufigkeit und Stärke von Kopfschmerzattacken.“
Dr. Stefanie Förderreuther, Präsidentin der DMKG, unterstreicht diese Aussage: „Jeder Mensch, der unter Kopfschmerz leidet, kann behandelt werden!” Neben der Prophylaxe ist auch die Akuttherapie wichtig, damit die Patienten den Kopfschmerz und die damit verbundenen Begleitsymptome lindern können und dem Schmerz nicht ausgeliefert sind. Sie warnt davor, Migräne zu verharmlosen: „Die Migräne spielt sich im Verborgenen ab. Während der Attacke ziehen sich die Betroffenen zurück. Ist sie vorüber, sind sie wieder weitgehend einsatzfähig. Im EEG, CT und Kernspintomogramm finden sich keine Auffälligkeiten, Blutwerte und andere Untersuchungsbefunde sind normal. Ich bin überzeugt, dass das wesentlich dazu beiträgt, dass selbst manche Ärztinnen und Ärzte die Krankheit unterschätzen,” so Förderreuther.
Insgesamt, so das Fazit des Migräne-Experten Prof. Diener, der auch maßgeblich an der Erstellung der Leitlinien zur Prophylaxe und Therapie beteiligt ist, lässt sich Migräne in den Griff bekommen. Wichtig sei aber, dass jeder Betroffene eine Therapie erhält, die individuell auf ihn oder sie zugeschnitten ist – und eine solche könne nur ein Arzt verschreiben.
Prof. Dr. Peter Berlit, Generalsekretär der DGN, fügt kritisch hinzu: „Die Werbung für freiverkäufliche Kopfschmerzmittel ist höchst irreführend und suggeriert, jeder könne die über 200 Kopfschmerzarten, wie es in einem TV-Spot so schön heißt, selbst therapieren, indem er einfach nur die beworbenen Tabletten einnimmt. Trauriges Resultat ist aber, dass wir immer mehr Patientinnen und Patienten sehen, bei denen der Kopfschmerz chronisch geworden oder bei denen der Kopfschmerz Folge der häufigen Einnahme dieser Medikamente ist. Schlimmstenfalls werden durch die oft monatelange medikamentöse Selbsttherapie schwere andere Erkrankungen viel zu spät erkannt. Wir raten daher grundsätzlich allen, wiederkehrende Kopfschmerzen ärztlich abklären zu lassen.“
Deutsche Gesellschaft für Neurologie e.V.
Literatur:
(1) Thomas G. Grobe, Susanne Steinmann, Joachim Szecseny. Arztreport 2017. Schriftenreihe zur Gesundheitsanalyse. S. 155 Online abrufbar unter https://www.barmer.de
(2) Diener H-C, Gaul C, Kropp P et al. S1-Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) in Zusammenarbeit mit der Deutschen Migräne- und Kopfschmerzgesellschaft (DMKG). Therapie der Migräneattacke und Prophylaxe der Migräne. Stand: 31. Januar 2018. Abrufbar unter https://www.dgn.org/leitlinien