Nach vielversprechenden Anfängen fiel Deutschland seit der Jahrtausendwende bei der Digitalisierung seines Gesundheitssystems immer weiter zurück und zählte laut internationaler Studien zuletzt eher zu den Schlusslichtern im europäischen Vergleich. Als Ursachen für die verzögerte Digitalisierung gelten neben Interessenskonflikten der vielen beteiligten Akteursgruppen insbesondere Bürokratie, hohe Technologiekosten, Sicherheitsbedenken und regulatorische Unsicherheiten sowie fehlende Zuverlässigkeit der technischen Lösungen. Auf die nur mäßig fortschrittlichen Strukturen traf im Frühjahr 2020 die Corona-Pandemie, die eklatante Schwachstellen der digitalen Kommunikation zwischen den Akteursgruppen des Gesundheitswesens offenlegte und besondere finanzielle, zeitliche und personelle Ressourcen abverlangte – andererseits aber auch einen gewissen Handlungsdruck auslöste, um bei der Digitalisierung schneller als bisher voranzukommen.
Die aktuelle Studie setzt sich vor diesem Hintergrund mit den Ursachen der verzögerten Digitalisierung auseinander und erarbeitet Handlungsempfehlungen für die weitere Gestaltung. Methodisch basiert sie auf intensiven Literatur- und Internetrecherchen sowie auf Interviews mit 15 Vertreter:innen der zentralen Akteursgruppen des Gesundheitssystems. Um den Untersuchungsgegenstand besser zu erfassen, werden in der Studie fünf zentrale digitale Anwendungen betrachtet: die Telematikinfrastruktur und Telemedizin, die elektronische Patientenakte, digitale Gesundheitsanwendungen (sogenannte „Apps auf Rezept“) sowie das elektronische Rezept.
Gesetzesinitiativen zur Digitalisierung des Gesundheitswesens
Wie die Analyse zur Umsetzung von Gesetzesinitiativen zeigt, befassen sich allein sechs Gesetze des Bundesministeriums für Gesundheit (BMG) in der 19. Legislaturperiode mit der Digitalisierung des Gesundheitswesens und schafften Rahmenbedingungen für die Nutzung von Telemedizin, E-Patientenakte, E-Rezept oder Apps. So wurden mit dem Terminservice- und Versorgungsgesetz (TSVG) neben dem Ausbau von Terminservicestellen auch die Inhalte der elektronischen Patientenakte definiert und das BMG erhielt 51% der Gesellschafteranteile der gematik, der 2005 gegründeten Gesellschaft für Telematikanwendungen der Gesundheitskarte mbH, um schnellere und effektivere Entscheidungen herbeizuführen. Das Digitale-Versorgung-Gesetz (DVG) regelt unter anderem die Rechtsgrundlage für den Anspruch der Bürger:innen auf Versorgung mit digitalen Gesundheitsanwendungen. Mit den umfangreichen Investitionsprogrammen des Krankenhauszukunftsgesetzes (KHZG) soll die Digitalisierung der Krankenhäuser gefördert werden.
Eine weitere Untersuchung der Positionen zentraler Akteursgruppen des deutschen Gesundheitswesens zeigte, dass diese die Digitalisierung begrüßen, wenn dadurch nicht eigene Interessen gefährdet sind. In den Vergleichsländern Estland, Dänemark, Spanien und Österreich werden relevante Stakeholder:innen von Beginn an stärker bei der Implementierung von E-Health-Prozessen eingebunden – wodurch ihre Ansichten frühzeitig besser verstanden und ihre Mitarbeit, Unterstützung und Zustimmung zu den Ergebnissen des E-Health-Planungsprozesses besser gewährleistet werden.
Mehr Datenverarbeitung erfordert mehr Datenschutz und Datensicherheit
Die Studienautor:innen weisen zudem daraufhin, dass mit dem Ausbau der Telematikinfrastruktur und weiteren Anwendungen – etwa Videosprechstunden, digitalen zahnärztlichen Bonusheften oder digitalen Impfpässen – auch die Datenverarbeitung und damit der Datenschutz und die Datensicherheit an Bedeutung gewinnen. Allerdings wurden bisher kaum Möglichkeiten zur Vereinheitlichung und Konkretisierungen des Datenschutzes wahrgenommen. Zudem sind bei IT-Sicherheits- und Datenschutzfragen Verantwortlichkeiten teilweise unklar und wenig nachvollziehbar geregelt – etwa definiert die gematik als zentrale Instanz die Anforderungen an die Telematikinfrastruktur und kontrolliert auch deren Einhaltung, sie ist aber nicht für den Datenschutz verantwortlich. Umgekehrt sind die Regelungen für Apps tendenziell zu ambitioniert geregelt, denn diese müssen anhand eines umfangreichen Kriterienkatalogs auf Datenschutz und Sicherheit überprüft werden, was dazu führen kann, dass viele Apps die Anforderungen nicht erfüllen oder die Entwickler:innen den entsprechenden Aufwand scheuen.
Dr. Tanja Bratan, die am Fraunhofer ISI die Forschung im Rahmen des EFI-Berichts „E-Health in Deutschland: Entwicklungsperspektiven und internationaler Vergleich“ koordinierte, äußert sich wie folgt zur weiteren Gestaltung der digitalen Transformation des deutschen Gesundheitssystems: „Nach langem Stillstand wurde mit den Gesetzesinitiativen der vergangenen Legislaturperiode eine wichtige Grundlage für die Beschleunigung der Digitalisierung des deutschen Gesundheitssystems gelegt. Um sie nun voranzutreiben, braucht es weitere politische Initiativen und Maßnahmen auf Ebene der Bundesländer, des Bundes und der EU, die zum Beispiel digitale Anwendungen in der Breite verfügbar machen und spürbare Mehrwerte der Digitalisierung in der Versorgung schaffen. Auf Basis unserer Studienergebnisse sehen wir unter anderem besonderen Handlungsbedarf beim Ausbau einer leistungsfähigen Breitbandinfrastruktur als Grundlage für die Digitalisierung, der Entwicklung einer E-Health-Strategie für Deutschland, einer besseren Vernetzung im gesamten Gesundheitssystem sowie einer deutlichen Verbesserung der IT-Sicherheit in Gesundheitseinrichtungen. Darüber hinaus sollte ein stetiges Monitoring die Umsetzung der Digitalisierung begleiten und in Reallaboren E-Health-Anwendungen erprobt werden. Aber auch der Aufklärung der Bevölkerung und der Verbesserung der digitalen Kompetenzen der Gesundheitsberufe sollte eine absolute Priorität zukommen.“
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Erschienen am 14.03.2022 • Deutschland hinkt bei Digitalisierung des Gesundheitswesens hinterher, große Potenziale für bessere Versorgung werden verschenkt.
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