Zuckerhypothese zur Entstehung des diabetischen Katarakts
Grauer Star ist weltweit die häufigste Ursache für Erblindung und zudem eine häufige Komplikation bei
Typ-2-Diabetes. Die derzeitige Hypothese über die Entstehung des Grauen Stars wird als Zuckerhypothese bezeichnet und besagt, dass ein hoher Blutzucker – ein Kennzeichen von Diabetes – die Entstehung des Grauen Stars beschleunigt. Die der Zuckerhypothese zugrundeliegende Arbeitshypothese besagt, dass sich höhere Glukosespiegel in den Linsen von Menschen mit Diabetes in ein Zuckeralkoholmolekül namens Sorbit umwandeln, das strukturelle Veränderungen in der Augenlinse hervorruft, die der Kataraktentwicklung vorausgehen. Obwohl diese Theorie nicht bewiesen ist, wird sie von den Forscher:innen nur selten weiter untersucht, da Katarakte derzeit chirurgisch behandelbar sind. „Eine Theorie kann lange Zeit überleben, wenn sie nicht angefochten wird", so Hafezi-Moghadam. „Mehr als ein halbes Jahrhundert lang lieferte die Zuckerhypothese eine Erklärung dafür, wie die Linse undurchsichtig wird, wenn der Blutzucker eines Tieres experimentell erhöht wird", so Hafezi-Moghadam, „aber so muss es bei der menschlichen Katarakt nicht sein."
Bildgebungstechnologie identifiziert Mikroläsionen
Um die Ursprünge der Gewebeschäden bei Diabetes zu entschlüsseln, brach das Team um Hafezi-Moghadam mit den bestehenden Modellen. Stattdessen führte es seine Studien an der Nilratte durch, einem Modell, von dem das Team ursprünglich berichtet hatte, dass es spontan Typ-2-Diabetes entwickelt, wenn es in Gefangenschaft gehalten wird und das den Zustand beim Menschen sehr gut nachahmt. Darüber hinaus half „die fortschrittliche Bildgebungstechnologie, die wir in dieser Studie verwendeten", so Rußmann, „zum 1. Mal konnten wir punktförmige Mikroläsionen sehen, die sonst nicht sichtbar gewesen wären. Das ist der Punkt, an dem fortschrittliche Medizintechnik zu neuen mechanistischen Erkenntnissen führt." Die neu gefundenen Mikroläsionen gingen allen Formen des diabetischen Katarakts voraus. Unerwarteterweise traten die Mikroläsionen jedoch bei fast der Hälfte der Tiere auf, bevor die Tiere in eine Hyperglykämie gerieten. „Es wurde deutlich, dass es eine höhere Komplexität gibt, als die Zuckerhypothese erklären konnte", so Dr. Ehsan Ranaei Pirmaradan, Erstautor der Studie und Postdoktorand am MBNI und der Harvard Medical School. „Wir fanden Immunzellen in der Nähe der Linse und in der Linsenkapsel. Das lenkte unseren Blick in eine völlig neue Richtung."
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Immunzellen und Epithelzellen der Linse verursachen die Mikroläsionen
Die Forscher:innen stellten fest, dass Immunzellen von den Ziliarkörpern in Richtung Linse wandern. In diesen Bereichen, in denen die Immunzellen die Linsenkapsel durchquerten, stellten sie fest, dass die Epithelzellen, die normalerweise die innere Oberfläche der Linsenkapsel bedecken, ihre Identität veränderten und sich anders verhielten. Auf diese Veränderungen, die auch als epithelial-mesenchymale Transformation (EMT) bezeichnet werden, folgten ein scheinbar unorganisiertes Zellwachstum, Zelltod und Zellwanderungen in den Linsenkörper. In einigen Regionen verließen die neu transformierten Zellen einfach ihre ursprüngliche Position und bahnten sich ihren Weg in die Linse. Solche zellulären Veränderungen, so klein sie auch sein mögen, beeinträchtigen die Funktion der Linse erheblich. „Es war ein Glücksfall, dass unsere Bildgebungstechnologie gerade hoch genug aufgelöst war, um solche mikroskopischen Läsionen im lebenden Organismus zu sehen", sagt Rußmann. „Eine zukünftige Richtung wird sein, dieses Wissen in eine frühe klinische Diagnose umzusetzen."
Zusammenhang zwischen dem Blutzuckerspiegel und dem Verhalten der Immunzellen muss noch gefunden werden
„Unsere Studie wirft spannende neue Fragen auf, die uns in der Zukunft noch beschäftigen werden", sagt Hafezi-Moghadam. „Wir müssen verstehen, warum sich die Immunzellen und die Epithelzellen der Linse so verhalten, bevor der Blutzuckerspiegel über den Normalwert steigt. Dies wird uns dem Verständnis näherbringen, warum diabetische Komplikationen bereits in der prädiabetischen Phase der Krankheit beginnen können." Mit diesem Wissen, so Hafezi-Moghadam, „können wir nach Wegen suchen, wie wir verhindern können, dass Menschen mit Diabetes einen Grauen Star und möglicherweise andere Komplikationen an anderen Stellen des Körpers entwickeln."
Neue Erkenntnisse könnten Operationen beim diabetischen Katarakt verhindern
„Katarakte lassen sich heute zwar leicht durch einen chirurgischen Eingriff entfernen, aber dieser Eingriff birgt das Risiko von Komplikationen", sagte Hafezi-Moghadam. „Angesichts von weltweit über 500 Millionen Menschen, die an Diabetes erkrankt sind, ist es dringend notwendig, nach nicht-chirurgischen Möglichkeiten zu suchen, um diese Komplikation zu verhindern, zu verlangsamen oder sogar rückgängig zu machen. Vielleicht wird es eines Tages möglich sein, diese Operationen ganz zu vermeiden. Dazu müssen wir uns wieder auf die Grundlagen besinnen.”
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Quelle: Hochschule für angewandte Wissenschaft und Kunst Hildesheim/Holzminden/Göttingen