Donnerstag, 21. November 2024
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Medizin

Wie geht es weiter mit der Digitalisierung?

von Anne Krampe-Scheidler

Wie geht es weiter mit der Digitalisierung?
© vectorfusionart - stock.adobe.com
Ein gern gesehener Gast auf der Digital Health Conference war an seinem letzten Tag im Amt nicht mehr dabei. Da bot es sich an, Jens Spahns Verdienste zu würdigen, aber auch einen kritischen Rückblick zu wagen. Spürbar war eine gewisse Unsicherheit, was vom neuen Gesundheitsminister zu erwarten ist, aber auch Freude über das klare Bekenntnis der Regierung zur Digitalisierung. Die ersten Schritte sind gemacht, nun müssen die Lösungen in der breiten Versorgung ankommen.
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Ambulante Versorgung von morgen – worauf kommt es an?

eRezept bei den Niedergelassenen in der Kritik

Niedergelassene Ärzt:innen haben mit der Digitalisierung grundsätzlich kein Problem, jedoch mit der Art und Weise, wie sie umgesetzt wird. Ein aktuelles Beispiel: das eRezept. „Es drückt und zwickt an jeder Stelle“, sagte Jessica Birkmann von medatixx, einem Anbieter für Praxissoftware. Die Ärzteschaft habe konkrete Vorstellungen vom Mehrwert: etwa die Möglichkeit, Medikamente vorzubestellen, Einblick in die Bestände zu bekomme, live mit den Apotheken zu kommunizieren oder die Arzneimittelsicherheit zu verbessern. Dieser Nutzen sei derzeit aber nicht vorhanden. Die Praxistauglichkeit müsse ausreichend in Testphasen geprüft werden, ergänzte Chris Berger von Doctolib. Auch um die Finanzierung wird noch gestritten. Berger regte einen „Praxiszukunftsfonds“ an, um die Praxen nachhaltig digital aufzustellen. Er berichtete, dass Niedergelassene in Frankreich 10.000 Euro im Jahr bekommen, um die nötige Hard- und Software zu installieren. Ein solcher Anreiz sei besser als Sanktionen.

ePA – „vom Depot zum Dialogpartner“

Dr. Hans-Jürgen Bickmann vom Hartmannbund wies die implizite Kritik an Jens Spahn zurück. „Vieles wäre ohne Sanktionen nicht auf den Weg gebracht worden“, betonte er. Nutzen sei relativ. So hätten Ärzt:innen andere Erwartungen an die elektronische Patientenakte (ePA) als Patient:innen. „Der Politiker macht eine Akte für den Wähler, und der Arzt macht eine Akte für den Patienten – das sind sehr unterschiedliche Bedürfnisse.“ Als privater Datenspeicher sei die ePA aus medizinischer Sicht nutzlos. Attraktivität gewinne sie für diagnostische und therapeutische Zwecke erst als breite, zugängliche Datensammlung. Favorisiert werde eine Plattform, die von verschiedenen Seiten nutzbar ist und Einträge in die ePA selbstständig intelligent miteinander verknüpft. Denkbar sei etwa eine Warnmeldung, wenn ein Präparat verschrieben werden soll, das in der Vergangenheit bereits zu einer allergischen Reaktion geführt habe. Es gehe darum, die Akte „vom Depot zum Dialogpartner“ zu machen, so Bickmann. Birkmann konstatierte, dass die digitalen Lösungen vorhanden, aber noch nicht in der Praxis angekommen seien. Spahn habe als „Digitalminister“ vieles angeschoben, nun gehe es um die Umsetzung. Viel Hoffnung setzten die Diskutant:innen in den Koalitionsvertrag, der viele Möglichkeiten biete, die digitale Praxis aufzusetzen. Sie wünschten sich vom neuen Gesundheitsminister eine Bestandsaufnahme und einen „praxistauglichen, realistischen Fahrplan“, um den Übergang in eine moderne Gesundheitsversorgung zu gewährleisten. Wichtig seien eine ehrliche Kommunikation, realistische Fristen und klare Zuständigkeiten.

Digitalisierung der Krankenhäuser auf gutem Weg

„DigtalRadar“ unsterstützt digitale Entscheidungen

Auch die Digitalisierung der Kliniken wird massiv angeschoben. Im 2019 publizierten Krankenhaus-Report hatten sich noch große Defizite gezeigt. Mit einem Wert des digitalen Reifegrads von 2,3 lag Deutschland unter dem europäischen Durchschnitt von 3,6. Nur eine deutsche Klinik erreichte in dem7-stufigen Modell die Stufe 6 (1). Der Nachweis der digitalen Entwicklung ist Voraussetzung, damit die Kliniken über das Krankenhauszukunftsgesetz Gelder bekommen. Die Messung des digitalen Reifegrads erfolgt im Rahmen des Projekts „DigtalRadar“, das vom Bundesministerium für Gesundheit gefördert wird. „So etwas gibt es weltweit noch nicht, wir sind hier die Ersten“, betonte Prof. Dr. Sylvia Thun von der Charité – Universitätsmedizin. „Es ist ein Teamprojekt“, sagte sie, an dem viele verschiedene Wissenschaftler:innen und Spezialist:innen aus der Praxis beteiligt seien. Abgefragt werden unter anderem klinische Prozesse wie digitale Entscheidungsunterstützung oder Therapiesicherheit, die Art des Informationsaustauschs, aber auch organisatorische Strukturen und das Datenmanagement. „Extrem wichtig ist auch die Patient:innenpartizipation“, betonte Thun. Nach der Evaluation bekommen die Kliniken einen detaillierten Ergebnisbericht, der auch den Vergleich mit anderen Kliniken ermöglicht. Inzwischen haben sich 1.567 von etwa 1.700 Kliniken für den „DigitalRadar“ registriert und 800 ihren Antrag eingereicht. Die gewonnenen Daten werden für die Forschung genutzt.

Hierarchie und fehlendes Verantwortungsbewusstsein größte Hürden für Digitalisierung in der Praxis

Michael Waldbrenner von Deutsche Telekom Clinical Solutions wies auf häufige Probleme in der Praxis hin. So herrsche bei den Akteur:innen häufig Hierarchie statt Agilität („Das ist Chefsache“), mangelnde Flexibilität („Das haben wir schon immer so gemacht“) oder auch fehlendes Verantwortungsbewusstsein („Dafür bin ich nicht zuständig“). Zudem plädierte er für eine Digitalisierung „ohne parallele Umgehungswege“: Wenn das eRezept eingeführt sei, müsse das Papierrezept abgeschafft werden. Er forderte darüber hinaus eine Anschlussfinanzierung: „Nach der Ausschüttung von 4,3 Milliarden Euro wird erwartet, dass in 4 Wochen Salatgurken geerntet werden können. Wir bräuchten aber einen Regen über Jahre, damit wir die Felder sinnvoll bestellen können.“ Insgesamt zeigte er sich optimistisch. „Ich denke, dass wir in ein paar Jahren viele Häuser mit einem digitalen Reifegrad der Stufe 6 sehen werden.“

Die elektronische Gesundheitskarte – ein Auslaufmodell?

Die von Waldbrenner befürchteten Parallelstrukturen deuten sich bei den digitalen Identitäten schon an. Eine ist mit der elektronischen Gesundheitskarte (eGK) verknüpft. Mit der Telematik-Infrastruktur 2.0 werde eine Plattform zur Verfügung stehen, auf der Versicherte ihre digitale ID unabhängig von einem Kartenterminal oder von Konnektoren mobil managen können, erläuterte Maria-Christina Parsch von der gematik. Ab dem 1.1.2023 müssen Krankenkassen ihren Versicherten eine digitale ID ohne Chipkarte zur Verfügung stellen, ab 2024 soll diese als vollwertiger Versicherungsnachweis gelten. Die Vorteile: eine Registrierung ist nur einmalig erforderlich und anders als bei der eGK gibt es kein Ablaufdatum. Dennoch werde die eGK weiterhin eine Daseinsberechtigung haben, so Pasch, weil sie im Notfall Daten leichter zugängig macht und keine Internetverbindung benötigt. Sie sei demnach kein Auslaufmodell, sondern eine Alternative zur elektronischen ID, so ihr Fazit.

Beschränkung der eGK auf Deutschland „überholt“

Dem widersprach Christian Hälker vom Verband der privaten Krankenversicherungen (PKV), deren knapp 10 Millionen Versicherte keine eGK haben. Die eGK sei überholt, vor allem auch, weil sie auf das deutsche Gesundheitssystem beschränkt ist, betonte er. Die PKV setzt daher auf eine Smartphone-Lösung, die Mitte nächsten Jahres in einem Pilotprojekt geprüft werden soll. Bei den gesetzlichen Kassen ist die Situation anders. Laut Roland Bruns von der BARMER ist die eGK in naher Zukunft nicht wegzudenken, auch weil sie den Zugang zur ePA gewährleiste. Allein die Einführung der eGK mit near field communication (NFC) sei aktuell eine große Herausforderung. „Man tauscht nicht innerhalb eines Quartals so viele Karten aus, schon gar nicht, wenn es keine Chips am Markt gibt.“ Zudem müssten verschiedene Nutzergruppen berücksichtigt werden, auch die ohne Mobiltelefon. Er plädierte jedoch ebenso wie Hälker dafür, Lösungen bereits auszuprobieren, auch wenn noch Vorgaben fehlen, denn „es nützt alles nichts, wenn es nicht akzeptiert wird“. Die größte Herausforderung in den nächsten zwei Jahren sei der Spagat zwischen einer großen Nutzerzahl und der notwendigen Sicherheit, so Dr. Dominik Deimel vom Start-up comuny, das eine mobile technische Komponente entwickelt hat, mit der digitale Identitätsdaten verwaltet werden können. Er sprach von einer Übergangsphase, da aktuell erst einige wenige Smartphones über die erforderliche Sicherheitsarchitektur verfügen.

Künstliche Intelligenz macht Therapien präziser und sicherer

„Investitionen in die digitale Infrastruktur des Gesundheitssystems retten Leben“, so Dr. Peter Schardt von Siemens Healthineers. Der Nutzen künstliche Intelligenz (KI) sei bereits heute erfahrbar, sagte er. Ein Beispiel ist „Deep Profiler“. Die bildgestützte KI unterstützt auf Basis eines neuronalen Netzwerks die individuelle Planung einer stereotaktischen Bestrahlung bei Krebspatienten. Aus vorhandenen Daten wie CT-Aufnahmen und klinischen Variablen wird ein „digitaler Zwilling“ des Patienten generiert. Anhand dieses Modells lässt sich voraussagen, wie gut er oder sie auf die Therapie ansprechen wird und welche Dosierung am effektivsten ist (2). Mit Hilfe der KI und des digitalen Patientenzwillings werde es künftig möglich sein, den gesamten Behandlungspfad zu personalisieren und zu optimieren. Ärzt:innen würden dadurch entlastet, treffen aber weiterhin letztendlich die Entscheidungen, sagte Schardt. Im nächsten Schritt werde es darum gehen, nicht mehr nur spezifische Aufgaben zu automatisieren, sondern individuelle Gesundheitsdaten aus unterschiedlichen Quellen lebenslang zu erfassen, zu aggregieren und zu interpretieren. Dies werde den Fokus stärker in Richtung der Prävention von Erkrankungen verschieben, knüpfte Prof. Dr. Martin Hirsch von der Philipps-Universität Marburg an. Schon heute zeige die Apple Health App, wie viele gesundheitsrelevante Informationen sich allein aus der Erfassung der Schritte ableiten lassen, vor allem, wenn diese über einen längeren Zeitraum betrachtet werden. KI werde Ärztinnen und Ärzte aber auch dabei unterstützen, die Informationsflut aus Patient:innen- und publizierten Daten individuell aufzubereiten und damit Entscheidungen über geeignete Intervention erleichtern.

Quelle: Digital Health Conference

Literatur:

(1) Wissenschaftliches Institut der AOK: Krankenhaus-Report 2019; https://www.wido.de/publikationen-produkte/buchreihen/krankenhaus-report/2019/ (Abruf am 8.12.2021)
(2) Lou B, et al. The Lancet Digital Health. 2019;1(3):e136-e47


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