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Trotz erneuter Ausbrüche: eine Masern-Eradikation ist immer noch möglich!

von Martin Wiehl

Trotz erneuter Ausbrüche: eine Masern-Eradikation ist immer noch möglich!
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Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) schlägt Alarm: Die vielen Masern-Ausbrüche in der Europäischen Region der WHO des vergangenen Jahres scheinen sich auch im neuen Jahr fortzusetzen. Neben den großen Ausbrüchen mit über 50.000 Infizierten vor allem in Osteuropa und in Ländern Zentralasiens sind Ausbrüche in Großbritannien und vereinzelt auch in Deutschland zu verzeichnen. Bei nüchterner Betrachtung kann diese Fehlentwicklung durchaus noch als Spätfolge der Corona-Pandemie eingeordnet werden. Und es gibt keinen Grund, nicht an dem von der WHO schon vor Jahren propagierten Fernziel einer weltweiten Masern-Eradikation festzuhalten.
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Masern: fast vergessen, aber in vielfacher Hinsicht brandaktuell

Masern gehören für die überwiegende Mehrzahl aller Ärzte heutzutage der Vergangenheit an, aber dennoch stellen sie in vielerlei Hinsicht ein Lehrstück par excellence für impfpräventable Infektionskrankheiten dar. Darin wird überaus deutlich, dass:
 
  1. sogenannte Kinderkrankheiten weder harmlos, noch für eine natürliche bzw. naturgemäße Entwicklung des Kindes notwendig oder gar förderlich sind,
  2. „Kinderkrankheiten“ im Erwachsenenalter mit erheblichen, mitunter sogar gesteigerten Gesundheitsgefahren verbunden sind,
  3. eine Infektionserkrankung nicht nur zu schweren akuten Beeinträchtigungen, sondern auch zu bleibenden Schäden führen kann,
  4. eine Infektion zwar einen lebenslangen Immunschutz hinterlassen kann, aber auch eine folgenschwere, langandauernde Immunmodulation mit deutlich erhöhter Anfälligkeit für andere Infektionskrankheiten,
  5. eine Erregerpersistenz Jahre nach der Primärinfektion in eine zwar seltene, langsam fortschreitende, dafür aber sicher zum Tod führende Sekundärkomplikation münden kann,
  6. eine Impfung sicher ist und zuverlässig nicht nur vor der Infektion, sondern auch vor der Erkrankung und ihren gefürchteten Komplikationen schützt,
  7. der Impfschutz einer Lebendvakzine ein Leben lang anhält,
  8. die Impfung nicht nur einen Individualschutz bietet, sondern auch einen Kollektivschutz,
  9. eine Rückmutation der attenuierten Impfviren nicht befürchtet werden muss und bei der Masern-Vakzine im Speziellen noch nie aufgetreten ist,
  10. der Impfstoff über ein derart ausgezeichnetes Sicherheitsprofil verfügt, das von keinem einzigen bekannten Arzneimittel jemals erreicht wurde und dass
  11. Impfrisiken oder gar -schäden extrem selten, dann aber zumeist auf eine erstmals auffällige angeborene Immundefizienz zurückzuführen und ansonsten in der Mehrzahl der Fälle reversibel sind.

Extrem hohe Infektiosität

Masern zählen mit Abstand zu den ansteckendsten Infektionskrankheiten überhaupt. Zur Verdeutlichung der extrem hohen Infektiosität verweist Prof. Dr. Annette Mankertz, Leiterin des Nationalen Referenzzentrums für Masern, Mumps und Röteln im Robert Koch-Institut (RKI) in Berlin, gerne auf ein eindrucksvolles Beispiel. Demnach hinterlässt eine maserninfizierte Person nach zweistündiger Abwesenheit in einem Raum immer noch genügend infektiöse Viren in der Atemluft, um auch eine weitere, nun neu eintretende Person noch mit hoher Wahrscheinlichkeit anzustecken.

Und extrem hohe Kontagiosität

Diese enorme Infektiosität resultiert auch in einer epidemiologisch bedeutsamen extrem hohen Kontagiosität. So wird die Reproduktionszahl R0, also die durchschnittlich Anzahl der von einer infizierten Person angesteckten weiteren ungeschützten Personen, auf 12 bis 18 geschätzt. Das entspricht etwa dem 5 bis 7-fachem der Ansteckungsquote für SARS-CoV-2 in den Anfängen der Corona-Pandemie.

Hohe Durchimpfungsraten sind ein Gebot der epidemiologischen Mathematik

Trotz dieser außerordentlich hohen Verbreitungspotenz ist eine schrittweise regionale Elimination von Masern und Röteln mit dem Endziel einer kompletten Eradikation nach wie vor möglich, wie es sich das WHO-Regionalkomitee für Europa seit dem Jahr 2005 auf die Fahnen geschrieben hat. Auch nach etlichen Rückschlägen wie den neuerlichen Masernausbrüchen bleibt dieses Vorhaben realisierbar, da es neben dem Menschen kein tierisches Reservoir für das Virus gibt und weil Infektionsketten durch Impfung effektiv durchbrochen werden können. Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist auch die genetische Stabilität des Virus, das nur einen einzigen Serotyp ausbildet. Ganz offensichtlich kommt das darin zum Ausdruck, dass der in der Masern-Mumps-Röteln (MMR)-Lebendvakzine enthaltene attenuierte Masern-Impfstamm seit Einführung 1971 nicht verändert werden musste und bis heute nichts an Immunogenität eingebüßt hat. Voraussetzung für eine nachhaltige Unterbrechung der Infektionsketten und damit auch für die Eliminierung des Masernvirus sind hohe Immunisierungsraten der gesamten Bevölkerung. Aus epidemiologischer und deshalb auch aus rein mathematischer Sicht sind dafür Masern-Impfraten von mindestens 95% notwendig, wie es mit der konsequenten Einhaltung des Standard-Impfkalenders der STIKO problemlos möglich wäre.

Zweite Masernimpfung wichtig für den Kollektivschutz

Aus immunologischer Sicht würde bei gesicherter Immunitätsausbildung eine einmalige Impfung mit der attenuierten Lebendvakzine völlig ausreichen, um einen lebenslangen Schutz vor Masern zu initiieren. Dennoch empfiehlt die STIKO eine rechtzeitige Zweitimpfung – aber nicht, weil ein Booster nötig wäre, um einen vollständigen individuellen Impfschutz gewährleisten zu können. Die zweite Impfung zielt vielmehr darauf ab, potentielle Impflücken im Gesamtkollektiv zu schließen, die durch eine geringe Zahl von Geimpften entstehen, die bei der ersten Impfung nicht ansprechen. Dies kommt rein rechnerisch zu einem bestimmten Prozentsatz vor – seien es Fehler im Transport der Vakzine infolge Unterbrechung der Kühlkette, seien es Unzulänglichkeiten bei der Applikation oder aber auch unzureichende Abstände zu viralen Infektionen, die infolge einer Interferonausschüttung den Erfolg der Impfung mit der Lebendvakzine konterkarieren können. Aber auch um einen individuellen Impfschutz sicherzustellen, der erst mit der Zweitimpfung ein eventuelles Ausbleiben des Impferfolges ausgleichen kann, sollte mit der zweiten Impfung – anders als bei Boosterimpfungen, bei denen längere Abstände in aller Regel von Vorteil sind – nicht zu lange gewartet werden, rät Mankertz. Für den zweiten Impftermin sollte deshalb möglichst der Zeitraum bis zum zweiten Geburtstag eingehalten werden.

Neuerliche Masernausbrüche weisen auf zu geringe Impfquoten hin

Bei einer solch hohen Impfquote von 95%, die für einen zuverlässigen Herdenschutz nötig wäre, machen sich Unterbietungen recht schnell bemerkbar. Im Zuge der Corona-Pandemie kamen aber zwei diametral entgegengesetzte, epidemiologisch bedeutsame Umstände zusammen. Zum einen sind durch die allgemeinen Einschränkungen sozialer Kontakte nicht nur SARS-CoV-2 an ihrer Verbreitung gehindert worden, sondern auch andere respiratorische Viren wie Influenza, das Respiratorische Synzytial-Virus (RSV) und eben auch das Masernvirus. Zum anderen aber haben dieselben Kontaktbeschränkungen dazu geführt, dass es zu wesentlich verringerten Arztkonsultationen kam und infolgedessen auch zum massenhaften Versäumnis von Impfterminen. Dementsprechend ließ das Europa-Büro der WHO in einer Pressemitteilung im Februar 2023 verlautbaren: „Nachdem im Jahr 2021 nur geringe Fallzahlen bei den Masern in der Europäischen Region der WHO verzeichnet wurden, ist die Zahl der Masernfälle seit Anfang 2022 wieder gestiegen. Anhaltende Immunitätslücken und verpasste Impfungen während der COVID-19-Pandemie haben viele Menschen, darunter eine größere Zahl von Kindern, für diese potenziell tödliche Krankheit anfällig gemacht (1).“

Zweiphasiger Krankheitsverlauf verweist auf systemische Ausprägung

Im Falle einer Infektion kommt es regelmäßig zu einem klinisch apparenten Verlauf, der typischerweise aus 2 Phasen besteht. Nach einer relativ langen Inkubationszeit von durchschnittlich 10 Tagen imponiert die Erkrankung zunächst mit hohem Fieber und typischer Symptomatik einer Atemwegsinfektion. Dies hat zu dem selbst heute noch in der Fachliteratur vielfach nachzulesenden Trugschluss geführt, dass Epithelzellen des Respirationstraktes die initialen Eintrittspforten für das Masernvirus darstellen würden. Das trifft aber keineswegs zu und könnte auch nicht erklären, warum eine Masernerkrankung im weiteren Verlauf immer eine systemische Ausprägung erfährt, während respiratorische Viren ansonsten in den allermeisten Fällen auf die befallenen Epithelzellen der Atemwege begrenzt bleiben und nur selten eine Virämie mit klinischen Anzeichen einer Systemerkrankung herbeiführen. Nach dem Prodromalstadium folgt schließlich eine zweite Krankheitsphase mit auffälliger Ausbreitung eines Exanthems über den gesamten Körper, was dann offensichtlich auf die systemische Qualität der zuvor scheinbar nur auf den Respirationstrakt begrenzten Infektion hinweist (2).
 
 

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Masern sind eine Erkrankung des Immunsystems

Der genaue Ablauf einer Maserninfektion konnte mittlerweile detailliert entschlüsselt werden. So hat sich herausgestellt, dass es sich bei Masern von Beginn an um eine Infektion von Immunzellen handelt. Erst in den letzten 10 bis 15 Jahren intensiver Erforschung der Infektionswege konnten die genauen Proteinstrukturen der Eintrittspforten des Virus in die Wirtszellen identifiziert werden – und das zu einer Zeit in der Masern aufgrund der relativ erfolgreichen Impfprogramme in den Industrieländern epidemiologisch keine wirklich bedeutsame Rolle mehr spielen. Einen erheblichen Anteil an der Aufdeckung der tatsächlichen Zusammenhänge haben Forscher aus Boston, Massachusetts (USA), Rotterdam (Niederlande), Cambridge (UK) und Helsinki (Finnland) geleistet. Als wesentliches Oberflächenmerkmal von potentiellen Wirtszellen für das Masernvirus wurde zuvor von japanischen Wissenschaftlern das Cluster of Differentation (CD) 150 entdeckt. Dieses membrangebundene Glykoprotein ist ausschließlich auf Immunzellen exprimiert, darunter insbesondere aktivierte Lymphozyten und Monozyten sowie ausgereifte dendritische Zellen. Für das Masernvirus bietet die spezielle Eintrittspforte in diese vorselektionierten Immunzellen den evolutionären Vorteil, dass mit ihrer Infektion und nachfolgenden Zerstörung zugleich auch die wichtigsten Akteure unspezifischer viraler Abwehr, nämlich die Produzenten von Interferon (IFN), eliminiert werden (3). Daneben verfügt das Masernvirus über mehrere Proteine, die als Instrumentarien dienen, gezielt in die Signalgebung zur IFN-Produktion der Wirtszellen einzugreifen und somit schon deren erste Antwort auf die Infektion zu antagonisieren (4). Auf der anderen Seite macht sich das Masernvirus die Organisation des zellulären Abwehrsystems zunutze. Indem es gezielt CD150+ Lymphozyten und dendritische Zellen infiziert, gelangt es mit ihnen quasi als Vehikel in primäre, sekundäre und tertiäre lymphoide Organe und Kompartimente, wo sich die – infolge der Infektion vermehrten – Klone weiterer Immunzellen versammeln. Dort finden die Masernviren über Zell-zu-Zell-Transmission ein ideales Umfeld, sich in großem Umfang replizieren zu lassen (5).  

Maserninfektion führt über Eliminierung von Memoryzellen zur Immunamnesie

Die bevorzugte Infiltration von CD150+ Immunzellen, zu denen neben den Monozyten und ihren differenzierten und ausgereiften Abkömmlingen, den dendritischen Zellen und Makrophagen, insbesondere auch B- und T-Lymphozyten zählen, hat weitreichende Konsequenzen für den unmittelbaren Krankheitsverlauf und weit darüber hinaus. Zunächst kommt es im frühen Stadium der Erkrankung infolge apoptotischer Prozesse infizierter Immunzellen sowie durch Phagozytose eben dieser Virus replizierenden Zellen zu einer gründlichen Depletion der – befallenen – Immunzellen, die sich als kurzzeitige vorübergehende Lymphopenie geltend macht. Die rasche Erholung des gesamten zirkulierenden Lymphozyten-Pools maskiert dabei aber die grundlegende pathologische Veränderung, die das Immunsystem inzwischen erfahren hat. Denn mit der massenhaften Proliferation Masern-spezifischer T- und B-Zellen, die im weiteren Gefolge durchaus eine lebenslange Immunität garantieren, ist lediglich die Gesamtzahl der Lymphozyten wieder normalisiert. Der Verlust von bisher vorhandenen und ausdifferenzierten T- und B-Zellen ist zugleich jedoch irreversibel und bleibt dauerhaft bestehen. Da es sich bei diesen Immunzellen vor allem um Memoryzellen handelt, ist somit das Immungedächtnis gegenüber einer Vielzahl von Pathogenen, mit denen die betroffene Person in der Vergangenheit Bekanntschaft gemacht hat, ausgelöscht. Dazu gehören auch die erfolgreichen Immunisierungen durch bisherige Impfungen, die von nun an vergessen sind. Dieses auch als „Immunamnesie“ bezeichnete Phänomen kann lange Zeit anhalten und über mehrere Jahre zu einer deutlich erhöhten Anfälligkeit gegenüber einer Reihe von Erregern verschiedener Infektionskrankheiten in allen erdenklichen Schweregraden sowie gegenüber opportunistischen Infektionen führen (6). Die üblicherweise nach Depletion von B-Zellen zu beobachtende Rekonstitution des Immungedächtnisses bleibt nach Masern über längere Zeit aus, weil mit der radikalen Auslöschung des Immungedächtnisses durch Eliminierung der Memory-B-Zellen und Plasmazellen aus dem naiven Pool von B-Vorläuferzellen nur unausgereifte und undifferenzierte B-Zellen mit fehlender Antigen-Spezifizierung hervorgehen (7).  

Eingeschränkte Diversität des Antikörperrepertoires mindert Schutz vor Infektionen

Die Immunamnesie nach Masern spiegelt sich offensichtlich auch in einer Minderung der in der Vergangenheit durch Antigenkontakt erworbenen Antikörper wider. Da der überwiegende Teil der erregerspezifischen Antikörper von langlebigen Plasmazellen im Knochenmark gebildet wird, verweist die – vorübergehende – Absenkung der Immunglobulin G (IgG)-Spiegel darauf, dass auch diese residenten Immunzellen durch das Virus zumindest teilweise eliminiert werden. Aber auch hier täuscht ein relativ rascher Wiederanstieg des Gesamt-IgG ebenso wie die Normalisierung der Lymphopenie darüber hinweg, dass eine grundsätzliche pathologische Veränderung der Immunkompetenz stattgefunden hat. Denn bei näherer Betrachtung wird ersichtlich, dass im Gefolge einer Masernerkrankung der starke Anstieg der masernspezifischen Antikörper den dauerhaften Verlust anderer pathogenspezifischer Antikörper maskiert und insgesamt somit die Diversität der bisher erworbenen Antikörper (AK) abnimmt (8). Damit geht die masernbedingte Depletion nicht nur von Memory-B-Zellen, sondern auch von Plasmazellen in ihrem Ausmaß über eine B-Zell-Depletion hinaus, wie sie mit anti-CD20- oder anti-CD19-Therapien bei Autoimmunerkrankungen angestrebt wird. Unter diesen Therapien bleibt der über Jahre zuvor erworbene Antikörper-Schutz vor den verschiedensten Erregern nämlich weitgehend erhalten. Demgegenüber haben aber epidemiologische Beobachtungen aus der Vor-Impf-Ära ergeben, dass die Morbidität und Mortalität von Kindern nach Maserninfektionen über einen Zeitraum von fünf Jahren deutlich erhöht war, was mit dem Verlust der entsprechenden Antikörper assoziiert war. Dabei gingen bis zu 50% der Todesfälle infolge von anderen Infektionskrankheiten als Masern auf das Konto einer vorangegangenen Masernerkrankung (6).

ZNS-Beteiligung nach Masern ergibt sich ebenfalls aus der Lymphozyten-Infektion

Die Komplikationsträchtigkeit einer Masernerkrankung ergibt sich aber nicht erst aus der über lange Zeit anhaltenden Anfälligkeit gegenüber Sekundärinfektionen, sondern auch schon akut aus der unmittelbaren Infektion von Immunzellen. Die Infektion dieser Zellen lässt schließlich nachvollziehbar erscheinen, wie es zu einem Übertritt des Masernvirus über die Blut-Hirn-Schranke (BHS) und damit zu der gefürchteten Masernenzephalitis kommen kann, die etwa jeden Tausendsten Masernpatienten heimzusuchen droht. Das Immunprivileg des Zentralen Nervensystems (ZNS) sorgt zwar dafür, dass ein direkter Übertritt von pathogenen Erregern über das dichte Geflecht von Tight Junctions und Makroglia der BHS nahezu ausgeschlossen ist, als Passagiere in infizierten Lymphozyten können Masernviren aber durchaus durch die BHS ins ZNS gelangen. Dort angekommen droht nach scheinbar erfolgreicher Bekämpfung der Maserninfektion eine weitere, zwar noch seltenere, dafür aber besonders schwerwiegende Komplikation. Die subakut sklerosierende Panenzephalitis (SSPE) betrifft etwa 4 bis 11 von 100.000 Masernerkrankten, ist ein sehr langsamer, aber unaufhaltsamer Prozess und endet schließlich nach einigen Jahren fast immer tödlich (9). Das liegt daran, dass infizierte Neuronen über Zell-zu-Zell-Transmission mehrkernige Riesenzell-Konglomerate bilden, die am Ende über Apoptose nach und nach untergehen und Gewebsschäden im ZNS hinterlassen (10).

Drastische Reduktion der Mortalität – wenn die Impfprogramme eingehalten werden

Die Impfung gegen Masern mit der attenuierten Lebendvakzine seit den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts gehört zu den erfolgreichsten Kapiteln der Impfgeschichte. Vor der Einführung der Vakzine wurden weltweit jedes Jahr 6 Millionen Todesfälle nach Maserninfektionen gezählt (11). Danach ging die masernbedingte Mortalität drastisch um 97% auf 164.000 zurück, wie sie noch im Jahr 2008 von der WHO dokumentiert wurde (12). In den Folgejahren stagnierten jedoch die Erfolge in der Begrenzung der impfpräventablen Erkrankung. Im Vor-Corona-Jahr 2019 erreichte die Zahl der weltweit gemeldeten Masernfälle den höchsten Stand seit 23 Jahren – mit einem fast 50%igen Anstieg der Sterblichkeit, wobei die Gesamtzahl der Todesfälle auf etwa 207.500 geschätzt wurde (13).

Hohes Sicherheitsprofil des Masern-Impfvirus als Grundlage für weitere Impfstoffe

Auch die Sicherheit der attenuierten Masernvakzine sucht seinesgleichen. Die Attenuierung des Wildvirus über mehr als 160 Passagen in aviären Embryonen-Zellkulturen hat zu derart zahlreichen Mutationen geführt, dass alle Gene des Ursprungsvirus abgewandelt und ihrer pathogenen Eigenschaften entraubt wurden. Eine Rückmutation – selbst in immuninkompetenten, -defizienten bzw. -supprimierten Impflingen – ist somit praktisch ausgeschlossen und wurde laut Mankertz auch in den letzten 60 Jahren nach zig-milliardenfacher Impfung weltweit noch nie beobachtet. Das extrem hohe Sicherheitsprofil macht das attenuierte Masern-Impfvirus darüber hinaus zu einem attraktiven Kandidaten als Vektor für die Konstruktion weiterer prophylaktischer aber auch therapeutischer Impfstoffe (14).
* Zur besseren Lesbarkeit wird in diesem Artikel das generische Maskulinum verwendet. Die verwendeten Personenbezeichnungen beziehen sich – sofern nicht anders kenntlich gemacht – auf alle Geschlechter.
Literatur:

(1) WHO: Umgehende gezielte Nachimpfungen erforderlich, um eine Wiederausbreitung der Masern zu verhindern, abrufbar unter: https://www.who.int/europe/de/news/item/10-02-2023-immediate-and-targeted-catch-up-vaccination-needed-to-avert-measles-resurgence, letzter Zugriff: 15.03.2024.
(2) de Vries RD, de Swart RL Measles Virus: A Respiratory Virus Causing Systemic Disease. In S. K. Singh (Ed.), Human Respiratory Viral Infections 2014 (1st edition ed., pp. 523-546). CRC Press (Taylor & Francis Group), abrufbar unter: https://doi.org/10.1201/b16778-26, letzter Zugriff: 15.03.2024.
(3) Tatsuo H, Yanagi Y. The morbillivirus receptor SLAM (CD150). Microbiol Immunol. 2002;46(3):135-42, abrufbar unter: https://onlinelibrary.wiley.com/doi/full/10.1111/j.1348-0421.2002.tb02678.x, letzter Zugriff: 15.03.2024.
(4) Benkamp B et al., Genetic Characterization of Measles Vaccine Strains.  The Journal of Infectious Diseases 2011;204:S533–S548.
(5) Laksono BM, de Vries RD et al., Measles Virus Host Invasion and Pathogenesis. Viruses 2016, 8, 210; doi:10.3390/v8080210.
(6) Mina MJ et al. Long-term measles-induced immunomodulation increases overall childhood infectious disease mortality, Science 2015, May 8;348(6235):694-9, abrufbar unter: https://www.science.org/doi/10.1126/science.aaa3662, letzter Zugriff: 15.03.2024.
(7) Petrova VN et al. Incomplete genetic reconstitution of B cell pools contributes to prolonged immunosuppression after measles, Sci. Immunol. 2019, abrufbar unter: https://www.science.org/doi/10.1126/sciimmunol.aay6125, letzter Zugriff: 15.03.2024.
(8) Mina MJ et al. Measles virus infection diminishes preexisting antibodies that offer protection from other pathogens, Science366,599-606(2019), abrufbar unter: https://www.science.org/doi/10.1126/science.aay6485, letzter Zugriff: 15.03.2024.
(9) Mekki M, et al. Subacute sclerosing panencephalitis: clinical phenotype, epidemiology, and preventive interventions. Dev Med Child Neurol. 2019 Oct;61(10):1139-1144, abrufbar unter: https://onlinelibrary.wiley.com/doi/full/10.1111/dmcn.14166, letzter Zugriff: 15.03.2024.
(10) Shirogane Y et al. Collective fusion activity determines neurotropism of an en bloc transmitted enveloped virus. Sci. Adv.9,eadf3731(2023), abrufbar unter: https://www.science.org/doi/10.1126/sciadv.adf3731, letzter Zugriff: 15.03.2024.
(11) Wolfson LJ. et al. Has the 2005 measles mortality reduction goal been achieved? A natural history modelling study. Lancet 2007; 369:191–200.
(12) Measles-Initiative. WHO/UNICEF joint annual measles report 2009, 2010.
(13) Pressemitteilung unicef, Masern: Weltweit 207500 Todesfälle, 2020, abrufbar unter: https://www.unicef.de/informieren/aktuelles/presse/-/masern-todesfaelle/276632, letzter Zugriff: 15.03.2024.
14) Baldo A et al. Biosafety considerations for attenuated measles virus vectors used in virotherapy and vaccination, Human Vaccines & Immunotherapeutics 2016, abrufbar unter: https://www.tandfonline.com/doi/full/10.1080/21645515.2015.1122146, letzter Zugriff: 15.03.2024.


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