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Schwerpunkt September 2023

Todes-(Ab)Grund: Warum Menschen Suizid begehen

von Susanne Morisch

Todes-(Ab)Grund: Warum Menschen Suizid begehen
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Noch immer sterben jedes Jahr in Deutschland Tausende Menschen durch Suizid. Dagegen steht die Suizidprävention. Ihr Antrieb ist das Verstehen, das Ergründen, das Knüpfen von Bindungen. Zum Welt-Suizid-Präventionstag am 10. September treten die existentiellen Fragen um den Suizid ins Licht: Warum suizidieren sich Menschen? Welche Triebkraft steht hinter dem Gedanken, das eigene Leben zu beenden? Und was ist es, das den Menschen am Leben erhält?
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Suizid: Gründe und Auslöser

Warum entscheiden sich Menschen für den Tod? Schon die Frage ist falsch gestellt. Sie müsste lauten „Warum entscheidet sich dieser Mensch für den Tod?“. Denn die Antwort auf die Frage ist so vielgestaltig wie der Mensch selbst. Es gibt keine Checkliste, keine zwingenden triftigen Gründe, nur individuelles Leid und ebenso individuelle Entscheidungen für oder gegen das Leben. „Da ist nicht der eine Auslöser zu identifizieren“, weiß Prof. Dr. med. Reinhard Lindner, langjähriger Psychotherapeut und Leiter des Nationalen Suizidpräventionsprogramms für Deutschland. „Es gibt eine große Vielfalt, aber auch Häufungen.“ Damit meint er, dass, so gesondert die Gründe auch sein mögen, es dennoch Aspekte gibt, die demjenigen, der danach fragt, wiederkehrend begegnen: Trennungen von Lebenspartner:innen, Verletzungen oder Kränkungen, schwere körperliche Erkrankungen und immer wieder auch Verluste – der Tod des Partners oder der Partnerin, das Ende einer Lebensphase, die Erkenntnis, dass sich ein sehnlicher Wunsch nie erfüllen wird.
Manche Wünsche werden nicht wahr, und mögen sie noch so groß sein – eine Erkenntnis, die wahrscheinlich jeder Mensch früher oder später gewinnt, doch nicht jeder wird dadurch suizidal. Was ist es also, was den einen im Leben hält, während es den anderen daraus vertreibt? „Oft sind es Menschen, die schon in ihrer Kindheit und Jugend mit großen schmerzhaften Erfahrungen in Beziehungen zu kämpfen hatten. Diese waren meist damit verbunden, sich sehr verlassen und hilflos fühlen zu müssen. Als Erwachsene glauben sie, das Ausbleiben von Unterstützung würde sich wiederholen“, erzählt Lindner aus seiner 18-jährigen Erfahrung der Psychotherapie mit akut und chronisch suizidalen Menschen. Alte, historische Gefühle legen sich also über die Gegenwart und verstärken die akute Krise. Die vergangene Erfahrung, mit den Problemen allein gelassen zu werden, lastet schwer, so schwer, dass ihr Gewicht gegenwärtig wird.

Suizidprävention durch Gatekeeper

Besonders ausgeprägt scheint dieses Empfinden bei Männern zu sein. Begehen sie doch dreimal so häufig Suizid wie Frauen. Sind Männer also allgemein unglücklicher, zerbrechlicher, weniger gut in der Lage, mit Krisen umzugehen? „Das nicht“, meint Lindner, „aber tatsächlich ist es so, dass sich bei der Suche nach Hilfe die Zahlen umdrehen: Dreimal mehr Frauen als Männer suchen bei suizidalen Gedanken nach Unterstützung. Besonders ältere Männer tun sich schwer, nach Hilfe zu suchen. Erschwerend kommt eine eher ablehnende Haltung gegenüber der Psychotherapie hinzu“. Eine schwierige Situation, da psychotherapeutischer Beistand das Mittel der Wahl ist – oder nicht? „Nicht zwingend“, antwortet Lindner. „Letzten Endes geht es darum, kreative Lösungen zu finden. Wenn jemand keinen Psychotherapeuten aufsuchen möchte, muss man eben zusehen, wie andere Menschen zur Prävention ins Boot geholt werden können“. „Gatekeeper“, nennt Lindner sie. Und die müssen beileibe kein Psychologie-Studium oder eine Psychotherapeuten-Ausbildung vorweisen können. „Das kann der Friseur sein, der Gastwirt oder auch der Hausarzt“. Menschen, mit denen der Betroffene in Kontakt ist, denen vielleicht auch eine Veränderung im Wesen und im Verhalten auffallen kann und die dann ein erstes Hilfsangebot kennen.

Suizidprävention in Deutschland lückenhaft

Wie wichtig das ist, zeigt auch das Netz der Suizidprävention, das nur lose über Deutschland gespannt ist. Noch immer gibt es bei den Hilfsangeboten ein enormes Stadt-Land-Gefälle und eine ungleiche Verteilung in den einzelnen Bundesländern. An den eher entlegenen Orten der Bundesrepublik können also beispielsweise aufmerksame, gut informierte Friseur:innen buchstäblich zum Lebensretter avisieren. Aber auch in den Städten, wo es deutlich mehr Möglichkeiten gibt, professionelle Hilfe zu finden, ist es für die Betroffenen nicht leicht. Monatelange Wartelisten der Psychotherapeut:innen, Einrichtungen, die nur auf Projektbasis laufen und zu einem bestimmten Zeitpunkt verschwinden, aber auch Hemmungen innerhalb der psychotherapeutischen Gemeinde, die Arbeit mit einen suizidalen Menschen zu übernehmen, machen es nicht leicht, den dringend benötigten Beistand zu bekommen.
 
 

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Maßnahmen der Suizidprävention

Und doch ist in Deutschland Vieles in den letzten Jahrzehnten verbessert worden. Die Zahlen sprechen eine klare Sprache. Noch in den 1980er Jahren zählte die Bundesrepublik jährlich 18.000 Suizidenten, heute sind es „nur“ noch 9.000. Woran das liegt, weiß Lindner: „Die psychiatrische Versorgungslandschaft hat sich deutlich verbessert, ebenso die Pharmakotherapie und auch die Suchttherapie.“ Auch die derzeitige Bundesregierung hat sich die Suizidprävention auf die Fahnen geschrieben. Um sie umzusetzen, würden zweistellige Millionenbeträge benötigt, schätzt Lindner. Zwar könnte man einwenden, dieser Betrag sei eine utopische Summe, aber schon kleine Veränderungen können große Durchschlagskraft zeigen: Da sind die bereits erwähnten Gatekeeper-Trainings zu nennen, die Verblisterung rezeptfreier Analgetika, die dazu zwingen, jede Tablette einzeln zu entnehmen, Schilder mit Telefonnummern an den einschlägigen Hotspots, die zu jeder Tages- und Nachtzeit zu den bekannten Hotlines führen, das Einblenden der TelefonSeelsorge-Nummer bei Google, sobald nach „Suizid“, „Selbstmord“ oder „Freitod“ gesucht wird, und auch die Schulung von Menschen, die mit potentiellen Suizidenten in Kontakt kommen.

Suizidprävention in der Hausarztpraxis

Dazu gehören auch die Hausärzt:innen. Oft bemerken sie als Erste, wenn sich jemand verändert, sich zurückzieht, wortkarger wird. Meistens reichen schon wenige einfühlsame Sätze, um die Betroffenen zum Sprechen zu bringen: „Ich habe das Gefühl, Ihnen geht es nicht gut. Wollen Sie mir etwas erzählen?“. Die meisten Menschen öffnen sich dann, sprechen von ihrem Schmerz, ihrem Leid, dem enormen Druck, unter dem sie stehen, der Einsamkeit und ihrer Verzweiflung. „Daraus ergibt sich eine komplexe Gesprächssituation“, weiß Lindner. „Die Hilflosigkeit und Ohnmacht des Betroffenen legt sich manchmal gleichsam auch über den, der helfen möchte.“ In einer Situation, in der vielleicht noch 20 andere Patient:innen im Wartezimmer sitzen, ist es entscheidend, seine Grenzen zu kennen, aber auch nicht wegzusehen. Konkret bedeutet das: Der Hausarzt oder die Hausärztin muss mit dem Betroffenen kein zweistündiges Krisengespräch führen, er oder sie muss nicht alle Antworten haben, aber die Hilfsangebote vor Ort kennen und die entsprechenden Nummern und Adressen zur Hand haben. „Es reicht nicht, dem Betroffenen nur einen Zettel mit einer Telefonnummer zu geben. Suizidale Menschen sind nicht nur buchstäblich lebensmüde, viele sind auch hilfemüde. Wenn der Hausarzt oder die Hausärztin selbst anruft und den Patient:innen einen konkreten Zeitpunkt nennen kann, an dem sich weiter um sie gekümmert wird, kann das viel wert sein“, sagt Lindner. Bei der Hilfe geht es also nicht nur ums Zuhören, sondern vor allem auch darum, ganz konkrete Angebote aufzuzeigen. Dabei ist Augenhöhe entscheidend: Das Gesagte ernst nehmen, ein klares Signal des Verstehenwollens senden und nie – wirklich niemals – urteilen. Nur so lässt sich eine Beziehung aufbauen, die sehr wertvoll ist.

Suizidprävention durch Beziehungen

Bezogen auf die im Bundestag gerade gescheiterte Gesetzgebung zur Regelung des assistierten Suizids mutmaßt Lindner: „Vielleicht war das Modell des rein informativen Aufklärungsgesprächs beim Anliegen eines assistierten Suizids der Grund, warum die Parlamentarier nicht zustimmen konnten“, mutmaßt Lindner. Denn in einer heillos digitalisierten Welt mit ihrem Überfluss an Information, braucht es da wirklich einen, der nur sachlich über alle Möglichkeiten der Hilfen informiert oder nicht viel mehr einen, der Beziehung schafft?
Denken Sie daran, sich das Leben zu nehmen? Damit sind Sie nicht allein! Es gibt Menschen, die Ihnen vorurteilsfrei und professionell helfen können.
Hier können Sie mit jemanden reden:
  Jemand hat Ihnen erzählt, dass er sterben möchte? Bitte nehmen Sie das sehr ernst! Geben Sie dem Betroffenen die Nummer der TelefonSeelsorge 0800 111 0 111 oder suchen Sie nach Hilfsangeboten vor Ort:
https://www.suizidprophylaxe.de/hilfsangebote/hilfsangebote/

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