Der Blick ins Gehirn weitet sich – Neurowissenschaften am Beginn einer neuen Ära
Birgit Frohn Dipl. biol.Lange Zeit war sie voller Rätsel und Geheimnisse… Inzwischen bringen Neurophysiologie und moderne bildgebende Methoden immer mehr Licht in die faszinierende Welt unseres Gehirns und seiner Funktionen – auch im eigentlichen Wortsinn. Viele Puzzleteile fügen sich nun ineinander und eröffnen wertvolle neue Horizonte im Management neurologischer Erkrankungen. Davon profitieren Millionen Betroffene.
Die neurowissenschaftliche Forschung kann in den letzten Jahren enorme und vielversprechende Fortschritte verzeichnen. Moderne neurophysiologische Methoden und fortschrittliche Bildgebungsverfahren haben die Grenzen des Wissens über die Funktion von Gehirn und Nerven deutlich erweitert. Auf der Basis dessen werden nun neue moderne Therapien entwickelt, die Millionen von Patientinnen und Patienten helfen und ihre Lebensqualität damit wesentlich verbessern können. Es herrscht mithin Aufbruchsstimmung in der Klinischen Neurophysiologie.
Beachtliche Therapiefortschritte beim akuten Schlaganfall
Nicht zuletzt aufgrund des demographischen Wandels nehmen Schlaganfälle und Demenzen, allen voran die Alzheimer-Demenz ungebremst zu. Bereits 2017 waren europaweit nahezu 60% der Bevölkerung von diesen und anderen neurologischen Erkrankungen betroffen (1). Doch präzisere Diagnosen und innovative Therapieansätze ermöglichen inzwischen beachtliche Erfolge. Unter anderem laut Prof. Dr. Christian Grefkes-Hermann, Direktor der Klinik für Neurologie der Universitätsmedizin Frankfurt/Main in der akuten Schlaganfalltherapie. „Die Therapieoptionen haben sich deutlich verbessert“.
„In Deutschland erleiden pro Jahr rund 270.000 Menschen einen Schlaganfall. Er ist inzwischen die fünfhäufigste Todesursache, aber weiterhin der häufigste Grund für dauerhafte Behinderungen: Über 50% der Patienten sind davon betroffen“.
Thrombektomie zeigt auch bei schweren Schlaganfällen Erfolg
Als „Meilenstein in der akuten Behandlung“ bezeichnet Prof. Grefkes-Hermann, die Erweiterung des Zeitfensters für die Thrombektomie auf 24 Stunden. Studien ergaben, dass Betroffene mit einem Verschluss großer hirnversorgender Gefäße sogar bis zu 24 Stunden nach dem Ereignis von dieser Behandlung profitieren können (2-4). „Die Thrombektomie zeigt auch bei schweren Schlaganfällen mit großen Infarktkernen Erfolg. Denn bei knapp 20% der Patienten konnte Tod oder Pflegebedürftigkeit verhindert werden (5)„, so der Frankfurter Neurophysiologe weiter.
Tenecteplase vereinfacht die akute Schlaganfalltherapie
Auch bei der medikamentösen Lyse-Therapie gibt es effektive Neuerungen: Das Thrombolytikum Tenecteplase hat in vielen deutschen Schlaganfallzentren den Einsatz des Wirkstoffs Alteplase abgelöst. Angesichts der deutlich kürzeren Applikationsdauer (Bolusgabe anstatt einstündiger Infusion) bei gleicher Wirkung vereinfacht Tenecteplase die Abläufe in der akuten Schlaganfalltherapie deutlich. „Time is brain“ lässt sich damit nach den Worten Prof. Grefkes-Hermann erheblich besser umsetzen. „Auch was Transfers zwischen Krankenhäusern für weitere Therapien wie Thrombektomie betrifft (6)“.
TMS zur Regeneration nach einem Schlaganfall:
Neben der Akuttherapie werden zunehmend auch postakute Therapien entwickelt, um die funktionelle Regeneration nach einem Schlaganfall zu verbessern. Dabei rangiert die Reorganisation neuronaler Netzwerke als entscheidender Faktor. Die transkranielle Magnetstimulation (TMS) zur Verbesserung der Hirnaktivität hat hier laut Prof. Grefkes-Hermann „sehr vielversprechende Ergebnisse bei der Reorganisation gezeigt“. Die funktionelle Bildgebung mittels MRT oder Elektroenzephalografie (EEG) macht die Hirnareale sichtbar, die am meisten von einer TMS profitieren (7).
Erstmals kausale Wirkstoffe gegen Alzheimer-Demenz
Bundesweit gibt es derzeit 1,8 Millionen Demenz-Patienten, jährlich werden künftig rund 400.000 Neuerkrankungen hinzukommen. Die Alzheimer-Demenz macht laut Prof. Grefkes-Hermann 60 bis 80% der Demenzen aus. Bislang gab es nur rein symptomatische Therapien dagegen. „Nun stehen Wirkstoffe zur Verfügung, die zum ersten Mal einen kausalen Ansatz haben“. Es handelt sich um die beiden monoklonalen Antikörper Lecanemab und Donanemab. Sie entfernen jene Proteine aus dem Gehirn, die für die Entstehung der Alzheimer-Erkrankung verantwortlich gemacht werden: „Amyloid-Beta und Tau-Proteine“. Der Ausschuss für Humanarzneimittel (CHMP) der Europäischen Arzneimittelagentur (EMA) hat im November 2024 eine Empfehlung zur Zulassung von Lecanemab ausgesprochen, welche in den kommenden Monaten erwartet wird. Lecanemab soll für die Therapie von Frühformen der Alzheimer-Demenz eingesetzt werden (8). Das als Infusion verabreichte Medikament greift direkt in die Biologie der Krankheitsentwicklung ein und kann somit das Voranschreiten dieser sehr häufigen Demenzform verzögern. „Aufgrund von Nebenwirkungen wie Hirnschwellungen oder Mikroblutungen müssen allerdings regelmäßig MRT- Untersuchungen durchgeführt werden“, so Prof. Grefkes-Hermann.
Aussichtsreiche neue Optionen bei ALS
Einer der bekanntesten Patienten, der an dieser bislang unheilbaren Erkrankung des motorischen Nervensystems litt, war der berühmte britische Physiker Stephen Hawking. Auch bei der amyotrophen Lateralsklerose (ALS) gibt es aussichtsreiche Hoffnungsträger. Einer ist der monoklonale Antikörper Rituximab, ein Wirkstoff aus der Immuntherapie. In einer klinischen Studie am Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE) wird derzeit untersucht, ob diese am Immunsystem ansetzende Behandlungsstrategie das Fortschreiten der ALS verlangsamen kann. „Als weiteren Durchbruch in der ALS-Behandlung“ bezeichnet Prof. Grefkes-Hermann die Entwicklung von Tofersen, einem Antisense-Oligonukleotid. Es wirkt durch Gen-Silencing, indem es die SOD1-mRNA abbaut und so die SOD1-Proteinsynthese unterdrückt (9). Tofersen hat im April 2023 die Zulassung von der FDA und im Februar 2024 von der EMA erhalten. „Obwohl aktuell nur ein kleiner Teil der Betroffenen mit der SOD1-Gen-Mutation dafür in Frage kommt, zeigt diese innovative Therapie das Potenzial gezielter genetischer Interventionen bei neurodegenerativen Erkrankungen“.
Innovative Ansätze bei pädiatrischer Epilepsie
„Schwere Verlaufsformen von Epilepsie können die Hirnentwicklung bei Kindern erheblich beeinträchtigen“, warnt Prof. Dr. Susanne Schubert-Bart, Leitende Oberärztin der Neuropädiatrie der Kinderklinik am Epilepsie-Zentrum der Universitätsmedizin Frankfurt. „Krankheitsmodifizierende statt einzig anfallssupprimierende Ansätze sind deshalb essenziell“. Bei deren Entwicklung ist laut Prof. Schubert-Bart einiges im Fluss. Im Fokus stehen dabei gentherapeutische Ansätze wie beispielsweise die minimalinvasive „Drug on Demand“-Gentherapie von fokalen Epilepsien. Dabei wird ein Gen für das Neuropeptid Dynorphin mittels Genvektor gezielt in Neurone der betroffenen Hirnregion eingeschleust, um die langfristige Unterdrückung von Anfällen zu erreichen. Vielversprechend erweist sich ferner die Therapie mit Antisense-Oligonukleotiden, kurz ASO. „Sie binden gezielt an bestimmte RNA-Abschnitte im Zellkern und können die Bildung schädlicher Proteine verhindern“.
Tiefe Hirnstimulation ohne operativen Eingriff mit tTIS
Die gezielte Stimulation tiefer Hirnregionen war bislang fast nur durch invasive neurochirurgische Eingriffe möglich und wegen Risiken und hoher Kosten nur begrenzt anwendbar. Mit der neuen transkraniellen temporalen Interferenzstimulation tTIS zur nicht-invasiven Neuromodulation tiefer Hirnregionen ist erstmals keine Operation mehr nötig – die Ergebnisse sind vielversprechend (10, 11) . Im Gegensatz zur klassischen tiefen Hirnstimulation bietet tTIS noch weitere Vorteile, so Prof. Dr. Friedhelm Hummel, Professor für Clinical Neuroengineering an der École Polytechnique Fédérale de Lausanne, der diese Technologie mit seinem Team maßgeblich weiterentwickelt hat: präzise Zielsteuerung, ohne oberflächliche Regionen zu beeinflussen und individuelle Anpassung an die Hirnstruktur und Hirnaktivitätsmuster der Patienten. „tTIS könnte die Behandlungslandschaft in Neurologie und Psychiatrie grundlegend verändern, indem es eine personalisierte und schonende Hirnstimulation ermöglicht“.
Paradigmenwechsel durch KI und mHealth
In den späten 1980ern gab es die erste Revolution in der Neurophysiologie: Mittels funktioneller Positionen-Emissions-Tomographie (PET) und Magnetresonanztomographie (fMRT) waren erstmals kognitive, affektive sowie motorische Prozesse und deren Störungen im lebenden Gehirn lokalisierbar. Damit ist laut Prof. Dr. Simon Eickhoff, Leiter des Instituts für Systemische Neurowissenschaften der Universität Düsseldorf und Direktor des Instituts für Neurowissenschaften und Medizin am Forschungszentrum Jülich, das Feld der Neurowissenschaften explodiert. „Die funktionale Bildgebung hat das Verständnis des menschlichen Gehirns fundamental verändert“.
Mit der Analyse großer Datenmengen durch KI steht nun ein Paradigmenwechsel bevor. „Das eröffnet uns völlig neue Möglichkeiten für personalisierte Diagnostik und Therapie. Wir können Muster erkennen, die für das menschliche Auge unsichtbar sind“, so Prof. Eickhoff. Der Einsatz von Mobile Health (mHelath) beschleunigt diese Entwicklungen. Denn über Wearables wie Smartphones, Smart-Watches oder Fitness-Tracker können umfangreiche Daten im Alltag gesammelt werden (12). „Diese Geräte bieten den unschätzbaren Vorteil, Verhalten und Störungen im realen Alltagsleben zu erfassen und ermöglichen robuste Einschätzungen auf Basis langfristiger, engmaschiger Datenerhebung“.
Quelle:Online-Fachpressekonferenz „Die Zukunft der Hirngesundheit: Hochpräzise Neurotechnologie und Bildgebung für neue Therapien“ am 05.03.2025; Veranstalter: Deutsche Gesellschaft für Klinische Neurophysiologie und Funktionelle Bildgebung (DGKN).
Literatur:
(1) Deuschl G. et al. The burden of neurological diseases in Europe: an analysis for the Global Burden of Disease Study 2017. Lancet Public Health 2020; 5: 551 – 567, DOI: 10.1016/S2468-2667(20)30190-0.
(2) Sarraj A. et al. Trial of Endovascular Thrombectomy for Large Ischemic Strokes. The New England Journal of Medicine; April 06, 2023. DOI: 10.1056/NEJMoa2214403.
(3) Olthuis SGH et al. Endovascular treatment versus no endovascular treatment after 6-24 h in patients with ischaemic stroke and collateral flow on CT angiography (MR CLEAN-LATE). Lancet 2023; March 29; S0140-6736(23) 00575-5, DOI: 10.1016/S0140-6736(23)00575-5.
(4) Xu Tong et al. Trial of Endovascular Therapy for Acute Ischemic Stroke with Large Infarct. The New England Journal of Medicine; April 06, 2023. DOI: 10.1056/NEJMoa2213379.
(5) Bendszus M. et al. Endovascular thrombectomy for acute ischaemic stroke with established large infarct: multicentre, open-label, randomised trial. Lancet 2023; 402 :1753 – 1763, DOI: 10.1016/S0140-6736(23)02032-9.
(6) Ford I. et al. Tenecteplase versus alteplase for acute stroke within 4·5 h of onset (ATTEST-2): arandomised, parallel group, open-label trial. Lancet Neurol. 2024; 23 (11): 1087 – 1096, DOI: 10.1016/S1474-4422(24)00377-6.
(7) Grefkes C. et al. Recovery from stroke: current concepts and future perspectives. Neurol Res Pract. 2020; 2:17.Published 2020 Jun 16. DOI: 10.1186/s42466-020-00060-6.
(8) Aisen P. et al. Lecanemab in Early Alzheimer's Disease. N Engl J Med. 2023; 388 (1): 9 – 21, DOI: 10.1056/NEJMoa2212948.
(9) Meyer T. et al. Clinical and patient-reported outcomes and neurofilament response during tofersen treatment in SOD1-related ALS-A. Muscle Nerve 2024; 70 (3): 333 – 345, DOI: 10.1002/mus.28182.
(10) Wessel M. J. et al. Noninvasive theta-burst stimulation of the human striatum enhances striatalactivity and motor skill learning. Nat Neurosci. 2023; 26 (11): 2005 – 2016, DOI: 10.1038/s41593-023-01457-7.
(11) Vassiliadis P. et al. Non-invasive stimulation of the human striatum disrupts reinforcement learning of motor skills. Nat Hum Behav. 2024; 8: 1581– 1598, DOI: 10.1038/s41562-024-01901-z.
(12) Lahnakoski J. M. et al. Naturalizing psychopathology-towards a quantitative real-world psychiatry. Mol Psychiatry. 2022; 27 (2): 781 – 783, DOI: 10.1038/s41380-021-01322-8.