Journal MED
Gastroenterologie
Inhaltsverzeichnis

Bidirektionale Interaktionen zwischen Darm und Gehirn

Bidirektionale Interaktionen zwischen Darm und Gehirn (Darm-Hirn-Achse) regulieren wichtige physiologische Funktionen wie Nahrungsaufnahme, Immunregulation und Schlaf. Interozeption bezeichnet die Fähigkeit des Gehirns, Informationen über den inneren physiologischen Zustand des Körpers zu erkennen und zu verarbeiten. Die Mikrobiomforschung hat gezeigt, dass neben den klassischen, über vagale und sympathische Nervenbahnen übertragenen Signalen auch Mikrobiota und ihre Metaboliten eine wichtige Quelle interozeptiver Informationen darstellen. Diese Signale beeinflussen die Struktur und Funktion des Gehirns und steuern über neuroimmunologische und neuroendokrine Mechanismen Reflexe, die zur Aufrechterhaltung der Homöostase im Darm-Gehirn-System beitragen. Störungen in der Interozeption werden mit Symptomen von gastrointestinalen Erkrankungen wie Reizdarmsyndrom und funktioneller Dyspepsie sowie mit psychischen und neurodegenerativen Störungen in Verbindung gebracht.

Barrieren überwinden und beeinflussen

Die zwei Hauptbarrieren für die Kommunikation zwischen dem Mikrobiom und dem Gehirn sind die intestinale Barriere und die Blut-Hirn-Schranke (BBB), die beide durch Mikrobiota, Entzündungsreaktionen und Stress beeinflusst werden können. Die intestinale Barriere besteht aus einer Epithelzellschicht, die durch enge Verbindungen zusammengehalten wird, sowie einer Schleimschicht, die Mikroben von den Immunzellen trennt. Eine gestörte Barriere, etwa durch falsche Ernährung oder chronischen Stress, kann zu einer erhöhten Permeabilität führen, wodurch Mikroben und deren Zellwandbestandteile in den Körper gelangen und das Immunsystem aktivieren. Ähnlich kann die Mikrobiota die BBB durch die Regulierung von Tight Junction-Proteinen beeinflussen, wobei die Einführung eines gesunden Mikrobioms die Durchlässigkeit der BBB verringern kann.

Lesen Sie mehr zu diesem Thema:

Reizdarmsyndrom: Selbsthilfe und ärztliche Unterstützung

Jetzt lesen

Kurzkettige Fettsäure als wichtige Botenstoffe der Darm-Hirn-Achse

Kurzketten-Fettsäuren (SCFAs) wie Butyrat, Propionat und Acetat sind Signalmoleküle, die ausschließlich von Darmmikroben durch die Fermentation von Ballaststoffen produziert werden. SCFAs wirken über die Aktivierung von Rezeptoren wie die G-Protein-gekoppelten Rezeptoren FFA2, FFA3 und GPR109a auf eine Vielzahl von physiologischen Prozessen, darunter Neuroplastizität, Genexpression, Nahrungsaufnahme und die Modulation des Immunsystems. Präklinische Studien an keimfreien Mäusen haben gezeigt, dass die Aktivierung afferenter Nervenbahnen zum Hirnstamm bei diesen Tieren erhöht ist, was durch die Verabreichung von SCFA-produzierenden Mikroben verringert werden kann. SCFAs fördern außerdem die Sekretion des Sättigungshormons GLP-1 und beeinflussen das Verhalten, während sie gleichzeitig die Expression von Genen im darmassoziierten Immunsystem herunterregulieren. SCFAs beeinflussen auch die Synthese von Serotonin in den enterochromaffinen Zellen (ECCs) des Darms, was wiederum auf das Nervensystem und das Verhalten wirkt.

Interaktionen zwischen humanen und bakteriellen Stoffwechselprodukten

Bitterstoffe wie Gallensäuren, die in der Leber aus Cholesterin synthetisiert werden, können von Darmmikroben in sekundäre Gallensäuren umgewandelt werden. Diese sekundären Gallensäuren aktivieren den Farnesoid-X-Rezeptor im Ileum, was die Produktion von Fibroblast Growth Factor 19 (FGF19) anregt, der das Gehirn erreicht und den Glukosestoffwechsel sowie die Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse reguliert. Gallensäuren beeinflussen auch die Glukosehomöostase, indem sie durch bestimmte Rezeptoren die Glucagon-like Peptide 1-Freisetzung steigern, was Essverhalten und Nahrungsaufnahme steuert. Östrogene, die durch das Mikrobiom durch Enzyme wie β-Glucuronidase dekonjugiert werden, können die hormonellen Spiegel beeinflussen, und ein Mangel an Mikrobiomvielfalt in postmenopausalen Frauen kann zu einem Rückgang des Gesamtöstrogenspiegels und damit zu verstärkten Symptomen des Reizdarmsyndroms beitragen. Aktivierung von Toll-like Rezeptoren durch mikrobielle Zellwandbestandteile wie Lipopolysaccharide (LPS) führt zu einer Entzündungsreaktion, die über Zytokine das Gehirn erreicht und neuronale Funktionen moduliert (1).

Mikrobiom beeinflusst Entwicklung und Funktion des Immunsystems

Das Mikrobiom im Darm spielt außerdem eine entscheidende Rolle bei der Entwicklung des Immunsystems, indem es Immunzellen wie T-Zellen, Makrophagen und dendritische Zellen im Darm und den zugehörigen lymphatischen Geweben beeinflusst (Darm-Immunsystem-Achse). Bei gnotobiotischen Mäusen, die ohne Mikrobiom leben, ist das Immunsystem beeinträchtigt, was zu einer verminderten Anzahl und Funktionsfähigkeit von T-Zellen und regulatorischen T (Treg)-Zellen führt. Die Rekolonisation dieser Mäuse mit Mikrobiota stellt die T-Zell-Populationen und deren Funktion innerhalb eines Monats wieder her. Es wurde auch gezeigt, dass die Einführung bestimmter Bakterienstämme, wie Bacteroides fragilis, die Funktion von Treg-Zellen wiederherstellt, was auf die enge Verbindung zwischen Mikrobiom und Immunantwort hinweist. Die Zusammensetzung des Mikrobioms und die durch die Mikrobiota produzierten Metaboliten haben somit einen direkten Einfluss auf die Funktion und das Verhalten des Immunsystems, was Auswirkungen auf Erkrankungen wie Bluthochdruck, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Neuroentwicklung und neurologische Störungen haben kann (2).

Lesen Sie mehr zu diesem Thema:

Mythen und Fakten zum Mikrobiom

Jetzt lesen

Darm und Leber – eine enge Verbindung

Der Darm und die Leber sind über mehrere Wege miteinander verbunden (Darm-Leber-Achse), insbesondere durch die anatomische Verbindung, bei der venöses Blut aus dem Darm in die Pfortader abfließt, die 75% der Blutversorgung der Leber ausmacht. Sie interagieren auch über das Mikrobiom, da die Leber als erstes Organ mit aufgenommenen Nährstoffen und Mikrobiom-Metaboliten in Kontakt kommt. Die Leber reguliert wiederum den Darm durch die Sekretion von Galle, die Gallensäuren, Immunglobulin A und antimikrobielle Moleküle enthält, um das Mikrobiom zu modulieren. Eine gestörte Mikrobiota (Dysbiose) aufgrund von Faktoren wie schlechter Ernährung oder Alkoholmissbrauch kann zu Lebererkrankungen führen, einschließlich alkoholbedingter Lebererkrankung und nicht-alkoholischer Fettleber (NAFLD). Eine Dysbiose wurde mit der Entwicklung von Lebererkrankungen in Verbindung gebracht und könnte durch Interventionen wie Fäkaltransplantationen behandelt werden, was die Bedeutung des Mikrobioms für die Lebergesundheit unterstreicht.

Lebererkrankungen und Mikrobiom hängen zusammen

Leberzirrhose ist das Endstadium chronischer Lebererkrankungen, das durch eine Verringerung der funktionalen Leberzellen und eine Zunahme von Narbengewebe gekennzeichnet ist. Eine häufige Folge ist eine verminderte Gallenzirkulation, die zu einer bakteriellen Überwucherung des Dünndarms und einer Dysbiose führt. Diese Veränderungen führen zu einer erhöhten intestinalen Permeabilität, wodurch Mikroben und deren Produkte in die Blutbahn gelangen und systemische Entzündungen fördern. Bei fortgeschrittener Zirrhose können bakterielle Translokationen zu Infektionen wie bakterieller Peritonitis führen. Im Zusammenhang mit Leberkrebs (HCC) zeigen Studien ebenfalls, dass Veränderungen im Mikrobiom, insbesondere eine Zunahme von Enterococcus und eine Abnahme von Butyrat-produzierenden Bakterien, mit der Entwicklung von HCC assoziiert sind.

Lesen Sie mehr zu diesem Thema:

Nicht-alkoholische Fettleber (NAFLD, MAFLD)

Jetzt lesen

Mikrobiom beeinflusst die Herzgesundheit

Aktuelle Studien deuten, wie bereits kurz erwähnt, auch auf eine enge Verbindung zwischen dem Mikrobiom des Darms und kardiovaskulären Erkrankungen (Darm-Herz-Achse) hin, insbesondere der koronaren Herzkrankheit, bei der eine verringerte mikrobielle Vielfalt und ein Ungleichgewicht in den Darmbakterien festgestellt werden. Bei diesen Patient:innen sind butyratproduzierende Bakterien wie Lachnospiraceae und Ruminococcus gauvreauii verringert, während entzündungsfördernde Bakterien wie Ruminococcus gnavus zunehmen, was die Entzündung und Krankheitsprogression begünstigt. Weiterhin wird eine signifikante Reduktion der SCFA-produzierenden Bakterien bei diesen Patient:innen beobachtet, obwohl sie für die Aufrechterhaltung der Herzgesundheit und die Reduktion von Entzündungen entscheidend sind. Bei peripheren Arterienerkrankungen wurden Metaboliten des Mikrobioms mit der Schwere der Erkrankung in Verbindung gebracht, wobei schädliche Substanzen wie Indoxylsulfat und p-Cresylsulfat in schwereren Fällen vermehrt auftreten.

Die Darm-Hirn-Achse bei zerebrovaskulären Erkrankungen

Die Rolle der Darm-Hirn-Achse bei zerebrovaskulären Erkrankungen wurde gut dokumentiert, wobei das Mikrobiom des Darms die Gehirnfunktion und die Gefäßgesundheit beeinflusst. Probiotische Behandlungen in Tiermodellen von Schlaganfällen zeigen vielversprechende Ergebnisse, indem sie die Gehirnfunktion verbessern und entzündungsfördernde Marker wie TNF-α und Malondialdehyd verringern. Bei Herzinsuffizienz-Patient:innen zeigt sich eine Verschiebung hin zu schädlichen Darmbakterien wie Ruminococcus gnavus und eine Reduktion von nützlichen Butyrat-Produzenten wie Faecalibacterium prausnitzii, was zu einer verstärkten Entzündung und Krankheitsprogression führt. Schließlich wird auch bei Bluthochdruck ein Zusammenhang mit einer Dysbiose des Mikrobioms festgestellt, bei der schädliche Bakterien wie Klebsiella zunehmen und SCFA-produzierende Mikroben abnehmen, was die Bedeutung des Mikrobioms für die Blutdruckregulation unterstreicht (4).

Darmgesundheit beeinflusst Knochengesundheit

Jüngste Studien haben auch gezeigt, dass das Mikrobiom des Darms eine entscheidende Rolle bei der Regulierung der Knochengesundheit spielt (Darm-Knochen-Achse), wiederum durch die Produktion von Metaboliten wie SCFAs. Sie beeinflussen sowohl die Aktivität von Osteoklasten als auch von Osteoblasten, was Auswirkungen auf den Knochenabbau, die Knochenbildung und damit die Knochendichte hat. Butyrat beispielsweise hemmt die Osteoklasten-Differenzierung, indem es Histon-Deacetylasen inhibiert, was den Knochenabbau reduziert. Darüber hinaus fördern SCFAs die Differenzierung von Treg-Zellen die an der Unterdrückung der Osteoklastenaktivität und der Unterstützung der Knochenbildung beteiligt sind. Das Vorhandensein von Tregs ist entscheidend für die knochenanabolen Effekte von Butyrat, da sie die Wnt-Signalisierung in Osteoblasten erhöhen und die Knochenbildung anregen (5).

Lesen Sie mehr zu diesem Thema:

Osteoporose: Eine unterschätzte Krankheit

Jetzt lesen

Dysbiose kann Osteoarthritis begünstigen

Veränderungen in der mikrobiellen Zusammensetzung des Darms wurden sogar mit Osteoarthritis (OA) in Verbindung gebracht (Darm-Gelenk-Achse). In Tiermodellen führte eine fettreiche Ernährung zu einer erhöhten Firmicutes/Bacteroidetes-Ratio, was mit der Schwere der OA korrelierte. Diese Veränderungen im Mikrobiom beeinflussen das Gleichgewicht von pro- und anti-inflammatorischen Signalen, wobei eine Zunahme entzündungsfördernder Bakterien wie Streptococcus und Proteobakterien mit höheren Konzentrationen an pro-inflammatorischen Zytokinen wie IL-6 und IL-8 verbunden war. Studien haben gezeigt, dass eine fettreiche Ernährung und eine gestörte Mikrobiota durch den Einsatz von Prä- und Probiotika teilweise rückgängig gemacht werden können, was entzündungshemmende Effekte auf die Darm-Gelenk-Achse hat. Der Zusammenhang zwischen Mikrobiom und Immunantwort weist darauf hin, dass das Mikrobiom sowohl adaptive als auch angeborene Immunantworten beeinflusst, was die Entzündungsmechanismen und die OA-Entwicklung beeinflusst (6).

Fazit

Das Mikrobiom spielt eine entscheidende Rolle in den verschiedenen Darm-Achsen, die eine bidirektionale Kommunikation zwischen dem Darm und anderen Organen ermöglichen. Störungen in dieser Balance, etwa durch unausgewogene Ernährung oder chronischen Stress, können schwerwiegende gesundheitliche Auswirkungen haben, darunter Entzündungen, Stoffwechselstörungen und die Entwicklung von Krankheiten wie Osteoarthritis oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Die Forschung zur Rolle des Mikrobioms bietet vielversprechende Ansätze für therapeutische Interventionen zur Verbesserung der Gesundheit und Prävention von Krankheiten.

Literatur:

(1) Mayer et al. Annu. Rev. Med. 2022;73:439–453. DOI: 10.1146/annurev-med-042320-014032
(2) Dinakis et al. Acta Physiologica. 2024;240:e14193. DOI: 10.1111/apha.14193
(3) Hsu & Schnabl Nat Rev Microbiol. 2023;21(11): 719–733. DOI: 10.1038/s41579-023-00904-3
(4) Bui et al. Korean Circ J. 2023;53(8):4 DOI: 10.4070/kcj.2023.0048
(5) Zaiss et al. J Clin Invest. 2019;129(8):3018–3028. DOI: 10.1172/JCI128521
(6) Gleason et al. Indian J Orthop. 2022;56(7):1150-1155. DOI: 10.1007/s43465-021-00473-8