Digitale Kurzsichtigkeit der Kranken- und Altenpflege?
Der wachsende Einsatz smarter Kontroll- und Monitoring-Tools in der Pflege entkoppelt diese zunehmend von ethisch-moralischen Erwägungen – das ist die Kernthese einer jetzt international veröffentlichten Analyse eines Wissenschaftlers der Karl Landsteiner Privatuniversität für Gesundheitswissenschaften in Krems (Österreich). Die in Nursing Philosophy erschienene Argumentation legt den Rollenwandel, der sich für Pflegende durch digitales Monitoring und KI-basierende Entscheidungsprozesse ergibt, überzeugend dar: Pflegebedürftige als Menschen mit individuellen Bedürfnissen wahrzunehmen, könnte standardisierten, „smarten“ Entscheidungsprozessen zum Opfer fallen. Das Einbinden von Pflegepersonal in die Entwicklung von Kontrolltechnologien oder eine neue Definition des Pflegeberufs könnte aber Abhilfe schaffen.
Kreation eines Datendoubles
Der „pflegerische Blick“ beschreibt die Betrachtung des zu Pflegenden sowohl als individuelle Persönlichkeit als auch als Verkörperung einer medizinischen oder altersbedingten Bedürftigkeit. „Doch der stark gestiegene Einsatz digitaler Kontroll- und Monitoring-Tools verengt diesen Blick immer mehr auf quantifizierbare, standardisierte Werte“, argumentiert Prof. Rubeis. „Schmerzbeurteilung, Verlaufsprognosen und Behandlungsempfehlungen erfolgen zunehmend durch Algorithmen. Tatsächlich spricht Prof. Rubeis bereits von der Kreation des „Datendoubles“, also jener digitalen Repräsentation eines Pflegebedürftigen, die aus rein technischen Werten besteht. „Je mehr wir den Pflegebedürftigen hinter seinen Daten verstecken, desto mehr entkoppeln wir auch Entscheidungsprozesse über Maßnahmen von dessen individuellen Bedürfnissen“, merkt Prof. Rubeis an. „Und – bei allen Vorteilen, die diese Technologien natürlich auch bieten – Entscheidungen basieren dort auf Standard-Annahmen, die eben nicht für jedes Individuum optimal sein können. Damit beginnt dann eine Entmenschlichung der Pflege.“Lesen Sie mehr zu diesem Thema:
Digitalisieren oder untergehen: Wandel im Gesundheitswesen drängt mehr denn je
Erschienen am 19.04.2022 • Entlastung durch neue digital-technische Berufsbilder wie Digital-technische Assistent oder der Digital-technische Fachangestellte(r) dringend notwendig.
Erschienen am 19.04.2022 • Entlastung durch neue digital-technische Berufsbilder wie Digital-technische Assistent oder der...
Moralische Immunisierung
Der Einsatz digitaler und KI-basierter Technologien, so Prof. Rubeis, wird für das Pflegepersonal aber oftmals rein positiv dargestellt – und dieses damit gegen moralische Beurteilungen „immunisiert“. „Digitale Überwachungstechnologien werden als Mittel zum Erreichen einer höheren Lebensqualität und eines Lebens frei von Einschränkungen gesehen“, so Prof. Rubeis. „Damit werden die Pflegenden auch ihrer moralischen Verantwortung enthoben, zu beurteilen, ob diese hehren Ziele mit den gewählten Technologien überhaupt erzielt werden. Oder ob die Betroffenen ein so kontrolliertes Leben überhaupt leben wollen. Der „pflegerische Blick“ wird auf einem Auge blind.“Laut Prof. Rubeis kann der pflegerische Blick, der über die körperlichen Bedürfnisse hinausgeht und Pflegebedürftige als Individuum wahrnimmt, jedoch durchaus mit der Digitalisierung im Pflegebereich koexistieren. Die Aufgabe der Pflegenden sollte dabei aber nicht sein, als Schutzengel der Menschlichkeit Betroffene vor negativen Auswirkungen digitaler Überwachung zu schützen. Vielmehr sollten Personen aus Pflegeberufen mit ihren Erfahrungen und Fokus auf das Individuum in Entscheidungen über die Entwicklung oder den Einsatz digitaler Kontrolltechnologien eingesetzt werden. Auf diese Weise kann ethischen Risiken vorgebeugt werden, statt Pflegenden das Abfedern von Kollateralschäden der Technik aufzubürden. So zeigt die international beachtete Analyse der KL Krems nicht nur eine mögliche – düstere – Zukunftsvision, sondern bietet auch konkrete Ansatzpunkte, um die enormen Möglichkeiten der Digitalisierung auch in der Pflege zum Wohle aller Betroffenen optimal einzusetzen.Quelle:
Karl Landsteiner Privatuniversität für Gesundheitswissenschaften
Literatur:Originalpublikation: Adiaphorisation and the digital nursing gaze: Liquid surveillance in long‐term care. G. Rubeis, Nursing Philosophy. 2022;e12388. , DOI: 10.1111/nup.12388