Adipositas: WHO spricht von einem epidemischen Ausmaß in Europa
Bei
Adipositas handelt es sich um eine chronische Erkrankung, die durch eine krankhafte Zunahme von Körperfett (BMI > 30) verursacht wird. In Deutschland sind etwa 50% der Menschen übergewichtig (BMI > 25) und etwa 20% adipös. Bis 2035 wird sich diese Zahl bis auf ca. 36% erhöhen (1). Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) spricht in Europa bereits von einem epidemischen Ausmaß. Daher hat der Bundestag die Adipositas im Jahr 2021 als Erkrankung anerkannt.
Adipositas ist eine ernsthafte chronische Erkrankung mit vielen Folgerisiken
Die Body-Positivity-Bewegung, die in den sozialen Medien in den letzten Jahren viel Aufmerksamkeit erreicht hat, verschleiert das eigentliche Problem. „Denn Adipositas ist nicht nur eine kosmetische Angelegenheit sondern eine ernsthafte behandlungsbedürftige chronische Erkrankung, die die Lebensqualität der Patient:innen reduziert“, wie es Prof. Dr. Susanne Reger-Tan, Klinik für Endokrinologie, Diabetologie und Stoffwechsel am Universitätsklinikum Essen, im Rahmen einer Pressekonferenz ausdrückte. Adipositas geht mit einem erhöhten Risiko für Diabetes, Herzinfarkt, Schlaganfall aber auch Krebserkrankungen einher, wobei das Risiko mit zunehmendem Übergewicht steigt.
Diabetes und Adipositas tragen ca. 7% zu den Neuentstehungen von Krebs bei. Dabei begünstigen sie vor allem Krebsarten wie Darm-, Nieren-, Leber- oder Bauchspeicheldrüsenkrebs.
Gesundheitliche und wirtschaftliche Auswirkungen von Adipositas
Folgen von Adipositas sind bei den Betroffenen eine reduzierte Lebenserwartung. Menschen, die in ihren 20ern bereits adipös sind, haben im Gegensatz zu normalgewichtigen Menschen eine um 6 bis 10 Jahren verkürzte Lebenserwartung. Außerdem geht die hohe Zahl an adipösen Menschen in Deutschland und weltweit auch mit gesellschaftlichen bzw. wirtschaftlichen Folgen einher. Wenn sich die derzeitigen Trends fortsetzen, werden die wirtschaftlichen Auswirkungen von Adipositas bis 2060 voraussichtlich auf ca. 3% des weltweiten Bruttoinlandsprodukts (BIP) ansteigen (2).
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Erschienen am 29.03.2023 • In einem Positionspapier hat die DEGAM Grundlagen zur Behandlung von Adipositas in der Hausarztpraxis zusammengefasst. Details lesen Sie hier!
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Gründe für das zunehmende Auftreten von Adipositas
Doch was sind die Gründe für das immer häufigere Auftreten dieser Erkrankung und des generellen Übergewichts in den Industrieländern? Die Auslöser für Adipositas und Übergewicht allein auf ein Ungleichgewicht des Kalorienhaushalts zurückzuführen, ist laut Prof. Reger-Tan „sicherlich nicht ganz unzutreffend, aber sehr eindimensional gedacht“. In der Evolution war es über Jahrtausende hinweg wichtig, viele Kalorien zuzuführen. Das Bedürfnis, Nahrung aufzunehmen, ist also nicht rein rational auf die Aufrechterhaltung des Kaloriengleichgewichts zurückzuführen, sondern wird stark von Belohnungsmechanismen im Gehirn gesteuert, um sicherzustellen, dass immer Energie zur Verfügung steht. Seit dem 2. Weltkrieg hat sich die Gesellschaft von einer vorwiegend industriellen Arbeitswelt mit viel körperlicher Arbeit zu einer Dienstleistungsgesellschaft gewandelt. Dies hat zur Folge, dass immer mehr Menschen eine sitzende Tätigkeit mit sehr geringer körperlicher Aktivität und geringem Energieverbrauch ausüben, was aufgrund der evolutionären Prägung des Körpers die Entstehung von Übergewicht begünstigt. Außerdem beeinflusst der individuelle genetische Hintergrund eines jeden Menschen die Reaktion des Körpers auf die Kalorienzufuhr und führt bei verschiedenen Menschen zu unterschiedlichen Ergebnissen. Des weiteren gibt es einige wichtige gesellschaftliche Faktoren, die die hohen Adipositasraten in Deutschland beeinflussen, wie die niederschwellige und kostengünstige Verfügbarkeit von hochkalorischen Lebensmitteln und die allgemeine Zunahme der Portionsgrößen. Auch die zunehmende Anzahl an schichtarbeitenden Menschen wirkt sich durch den gestörten Tag- und Nachtrhythmus und den dadurch veränderten Stoffwechsel negativ auf den BMI in der Gesamtbevölkerung aus.
Grundstein der Adipositastherapie: Ernährungsumstellung und Verhaltensmodifikationen
Bei der Therapie von Adipositas ist das Ziel eine Verbesserung der Gesundheit und Lebensqualität der Patient:innen, was anhand einer Gewichtreduktion von 5 bis 10% gemessen wird. Neben der reinen Gewichtsreduktion kann die Therapie der Adipositas bei Menschen mit Prädiabetes den Glucosestoffwechsel in einem hohen Ausmaß normalisieren und außerdem die kardiovaskuläre Ereignisrate um ca. 20% senken. Der Grundstein der Therapie ist die Optimierung der Lebensgewohnheiten durch modulare Basistherapie, Ernährungsumstellung, Steigerung der körperlichen Aktivität und Verhaltensmodifikation. Dies hat einen positiven Effekt auf das Gewicht und auf die kardiometabolische Gesundheit. Jedoch ist dieser Effekt, mit einer Reduktion des Gewichts von median 3 bis 6 kg, verhältnismäßig gering und die meisten Patient:innen haben Schwierigkeiten das Gewicht nach der Gewichtsabnahme auch zu halten.
Adipositaschirurgie wird von vielen Patient:innen abgelehnt
In diesen Fällen kann auf die Adipositaschirurgie zurückgegriffen werden. Dabei handelt es sich um einen chirurgischen Eingriff, bei dem der Magen verkleinert oder umgeleitet wird, um die Nahrungsaufnahme zu begrenzen und den Gewichtsverlust zu fördern. Es gibt verschiedene Arten von bariatrischen Operationen, wie den Magenbypass, die Schlauchmagenoperation oder das Magenband. Die chirurgischen Eingriffe können eine anhaltende Gewichtsreduktion von bis zu 30% bei den Patient:innen erzielen, was zu positiven Effekten auf das Diabetesrisiko und zu
einer Steigerung der Lebensqualität führt. Der Einsatz der Adipositaschirurgie wird jedoch meist nur sehr zurückhaltend von den Patient:innen gewählt, da es sich um hochinvasive Eingriffe handelt.
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Welche Medikamente gibt es bei Adipositas?
Diese therapeutische Lücke zwischen der Basistherapie und der invasiven Adipositaschirurgie kann durch neu aufkommende Adiposiatsmedikamente geschlossen werden. Aktuell sind in Deutschland zur Gewichtsreduktion die Medikamente Orlistat, Liraglutid und Semaglutid verfügbar. Liraglutid und Semaglutid sind GLP-1-Rezeptor-Agonisten, die die Wirkung des Inkretins Glucagon-like peptide (GLP-1) an dessen Rezeptor nachahmen. Inkretine sind Hormone, die bei der Nahrungsaufnahme von Dünndarmzellen ausgeschüttet werden. Dadurch wird die Sekretion von Insulin in Abhängigkeit vom aktuellen Plasma-Glukosespiegel stimuliert. Zugleich wird die Ausschüttung von Glucagon gehemmt, die Magenentleerung gebremst und im zentralen Nervensystem (ZNS) ein Sättigungsgefühl vermittelt. Neben GLP-1 ist aktuell das Inkretin Glucose dependent insulinotropic peptide (GIP) bekannt. Inkretin-Analoga sind länger wirksam und potenter als die Inkretin-Hormone.
GLP-1-Rezeptor-Agonisten: Gewichtsreduktion von bis zu ca. 15%
Liraglutid ist bereits eine etablierte medikamentöse Therapieoption bei Adipositas. Das GLP-1-Analogon ist in der Langzeitbehandlung der Adipositas wirksam und weist ein gut dokumentiertes Sicherheitsprofil auf (3). So erreichten Early Responder unter Liraglutid (3 mg) nach einem Jahr Therapie eine Gewichtsabnahme von 11,2 % (4). In den USA ist Semaglutid seit Juni 2021 für Adipositas zugelassen. Seit Januar 2022 hat auch die EU-Kommission die Zulassung von Semaglutid für die Therapie von Adipositas freigegeben, wobei es seit Juli 2023 auch in Deutschland verfügbar ist. In der STEP-1-Studie lag die Gewichtsreduktion unter Therapie mit Semaglutid nach 68 Wochen bei 14,9% vs. 2,4% unter Placebo (5). Dabei wurde es in der Dosis von 2,4 mg einmal wöchentlich als Spritze verabreicht und von Lebensstiländerungen begleitet.
Überlegene Gewichtsreduktion mit GIP/GLP-1-Rezeptor-Agonist Tirzepatid
Neben GLP-1-Rezeptor-Agonisten befinden sich weitere Substanzen, die zusätzlich zum GLP-1-Rezeptor auch andere Inkretinrezeptoren (z.B. GIP-Rezeptor, Glucagon-Rezeptor) stimulieren, in der Entwicklung. Unter den dualen Agonisten ist der GIP/GLP-1-Rezeptor-Agonist Tirzepatid in seiner klinischen Entwicklung am weitesten fortgeschritten und mittlerweile bei Typ-2-Diabetes zugelassen. In der randomisierten doppelblinden Studie
SURPASS-2 zum direkten Vergleich mit dem GLP-1 Rezeptor-Agonisten Semaglutid (1 mg) konnte Tirzepatid (5 mg, 10 mg und 15 mg) das mittlere Körpergewicht signifikant um 8,5%, 11% und 13% (vs. 6,7%) reduzieren (6). Der Taillenumfang nahm signifikant stärker ab als unter Semaglutid.
Häufig gastrointestinale Nebenwirkungen durch Inkretin-Analoga
Das Verträglichkeitsprofil der Mono- und Poly-Agonisten ist vergleichbar. Die häufigsten Nebenwirkungen sind Übelkeit, Erbrechen, Blähungen und Diarrhoe. Da diese Nebenwirkungen verhältnismäßig häufig auftreten, wird die Dosis der Medikamente monatlich gesteigert, bis die volle Therapiedosis erreicht ist.
Benachteiligung durch Nichterstattung der medikamentösen Adipositastherapie
Semaglutid wird aktuell nicht von den gesetzlichen Krankenkassen zur Behandlung der Adipositas erstattet. Die Deklarierung als Lifestyle-Medikament ist laut Prof. Reger-Tan „sozial ungerecht und medizinisch falsch.“ Adipositas ist eine chronische Erkrankung mit sehr relevanten Folgerisiken (Diabetes, Krebs, Gelenkerkrankungen), die hohe Gesundheitskosten und auch gesellschaftliche Kosten, durch z.B. Arbeitsausfälle, nach sich ziehen. Die meisten Menschen, die an Adipositas leiden sind häufiger finanziell benachteiligt und können sich den Zugang zu gesünderen Lebensmitteln weniger leisten. Außerdem arbeiten Menschen aus dieser sozialen Gruppe häufiger im Schichtbetrieb und leben in meist städtischen Gegenden mit höherer Feinstaubbelastung, was zusätzlich das Risiko für Herz-Kreislauferkrankungen erhöht. Aufgrund der Nichterstattung von Adipositasmedikamenten durch die Krankenkassen werden diese Menschen daher zusätzlich benachteiligt. Aus diesem Grund plädiert Prof. Reger-Tan für eine Erstattung dieser Medikamente durch die gesetzlichen Krankenkassen, um diese soziale Benachteiligung aufzuheben und hohe Folgekosten für das Gesundheitssystem zu verhindern.